Syvicol„Im Grunde waren wir gar nicht resilient“: Emile Eicher über politische Partizipation der Bürger 

Syvicol / „Im Grunde waren wir gar nicht resilient“: Emile Eicher über politische Partizipation der Bürger 
Syvicol-Präsident Emile Eicher steht dem Tageblatt Rede und Antwort. Foto: Editpress/Alain Rischard

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Selbst geht er in Clerf nochmal ins Rennen um das Bürgermeisteramt. Syvicol-Präsident Emile Eicher spricht im Tageblatt-Interview über die bevorstehenden Wahlen und über das Krisenmanagement und die Herausforderungen für die Gemeinden.

Tageblatt: Herr Eicher, bei Kommunalwahlen schlägt die Stunde der Gemeinden in der Politik. Stehen diese aber gerade im Superwahljahr nicht etwas im Schatten der Parlamentswahlen?

Emile Eicher: In der Lokalpolitik geht es vor allem um den direkten, nachbarschaftlichen Aspekt, aufgrund dessen viele Menschen sich direkt angesprochen fühlen und auf dem viele Politiker ihre Politik aufbauen. Im Schatten der nationalen Politik stehen die Gemeindewahlen schon allein deshalb nicht, weil sie zuerst stattfinden. Zwar gibt es in den jeweiligen Gemeinden spezifische Themen, allerdings betreffen die großen Themen der Politik, wie etwa die Wohnungs- und Mobilitätskrise, sowohl die nationale als auch die lokale Ebene. Auf der ersten Ebene werden Konzepte als Rahmen gegeben, die dann auf der zweiten umgesetzt werden. Auf der zweiten Ebene geht es vor allem darum, die eigene Gemeinde nach vorn zu bringen und für die Bevölkerung lebenswert zu gestalten, ihr zum Beispiel genügend Wohnraum zur Verfügung zu stellen sowie die nötigen Betreuungsstrukturen und lokalen Arbeitsplätze zu schaffen, für moderne Schulen und eine gute Mobilität zu sorgen.

Wenn Sie auf die zu Ende gehende Mandatsperiode zurückblicken: Was ist aus kommunalpolitischer Sicht besonders ins Gewicht gefallen?

Es hat niemand von uns mit zwei so riesigen Krisen gerechnet. Zuerst hat uns Covid wie ein schwerer Hammer erwischt. Was uns eine Lehre war und schockierte, denn eigentlich waren wir im Grunde gar nicht resilient und darauf vorbereitet. Und wir hatten uns nie darüber Gedanken gemacht, was im Falle einer solchen Krise zu tun war. Wir mussten rasch reagieren und spielten unsere Rolle, was erstaunlich gut funktioniert hat. Wir fanden schnell Antworten auf die Situation. Das hatte niemand erwartet. Immer hatte es geheißen, dies oder das sei nicht möglich – und plötzlich funktionierte es, etwa der Umstieg auf Homeoffice. Obwohl die Pandemie viel Leid mitbrachte – auf der anderen Seite hat sie aber auch dazu geführt, dass wir alle unsere Kräfte mobilisierten, die vorher nie so richtig zur Geltung gekommen waren. Es gab eine immense Solidaritätswelle.

Die zweite Krise in der Folge des Ukraine-Krieges war die Energiekrise. Wir mussten uns überlegen, wie wir am besten Energie sparen konnten. Auch das hat bislang gut geklappt. Nicht nur, indem wir die Bürger berieten, sondern indem wir als Gemeinden selbst Energie einsparten und so dazu beitrugen, dass die Energiesparziele erreicht werden konnten.

Trotz der Ausnahmesituation zweier Krisen standen auch längere Reformen wie das Gemeindegesetz an: Nach der Reform der Aufsicht über die Gemeindeverwaltung und der Definition der Rechte und Pflichten der Gewählten ist dies die gesetzliche Verankerung einer verstärkten Bürgerbeteiligung.

Zuerst sollte es ein einziges großes Gesetz sein. Dann entschied das Innenministerium, es in drei Teile aufzuteilen. Der erste Teil ist bereits in Kraft getreten. Zwar bedarf es noch einer gewissen Zeit, um herauszufinden, wie es sich in der Praxis bewährt und an welchen Stellen noch nachjustiert werden muss. Aber wir sind zufrieden, schließlich wurde ein Großteil der Forderungen des Syvicol umgesetzt. Die beiden weiteren Säulen des Gemeindegesetzes müssen noch durch den Staatsrat. Was uns noch Sorgen bereitet, betrifft das Funktionieren der Gemeinden sowie die Pflichten und Verantwortung der Gewählten. Das hat nicht zuletzt mit der Definition der Verantwortlichkeit zu tun und damit, wie weit diese geht und wie die Gewählten abgesichert sind. Für viele Gemeinden ist das eine große Herausforderung, vor allem für die kleineren.

 Die dritte Säule, die Bürgerbeteiligung, wird in dieser Legislaturperiode wohl nicht mehr verabschiedet.

Der Staatsrat hat noch einen riesigen Stapel an Dossiers zu erledigen. Die Partizipation der Bürger wäre gerade jetzt besonders wichtig gewesen im Hinblick auf die Wahlen, denn Wählen ist nicht nur ein Grundrecht, sondern auch die Basis der direkten politischen Partizipation eines jeden Bürgers. Ich finde es nicht normal, dass es sechs Gemeinden gibt, in denen am 11. Juni nun nicht gewählt werden muss, da nicht ausreichend Kandidaten Verantwortung übernehmen wollten.

Das Ergebnis der Kampagne, mit der mehr Nicht-Luxemburger an die Wahlurne gelockt werden sollten, ist eher bescheiden, oder?

Das ist in der Tat so. Zwar sind im Vergleich zu den letzten Wahlen viele jener Wähler, die damals noch als Nicht-Luxemburger wählten, mittlerweile Luxemburger geworden. Andererseits ist die Bevölkerung auch angewachsen. Was mich aber am meisten enttäuscht, ist das geringe Interesse vor allem in der jungen Generation bis 34 Jahren. Das bereitet mir Sorgen. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass es unter den jungen Luxemburgern nicht viel anders wäre, wenn wir die Wahlpflicht nicht hätten. Das ist eine ganze Bevölkerungsgruppe, die unterrepräsentiert ist. Das Ergebnis der Kampagne (etwa 50.000 Nicht-Luxemburger in den Wählerlisten, Anm. d. Red.) ist zwar ein leichter Fortschritt, aber bei weitem nicht zufriedenstellend. In der Hinsicht gilt es in Zukunft den Hebel anzusetzen, immerhin wurde in bislang 33 Gemeinden der „Pakt vum Zesummeliewen“ unterschrieben.

Sie haben bereits Themen angesprochen, die sowohl die nationale als auch kommunale Politik betreffen, etwa die Wohnungsbaupolitik. Welche Lösungen schlagen Sie in dieser Hinsicht vor?

Man muss zuerst einmal davon ausgehen, dass die Gemeinden ganz unterschiedlich sind. Dementsprechend muss man seine Wohnungsbaupolitik anpassen, sowohl auf der Ebene der PAG als auch von der allgemeinen Zielführung. Große Gemeinden haben oft performante Dienste mit spezialisierten Mitarbeitern, kleine Gemeinden nicht. Letztere sind schnell überfordert, weil sie gar nicht das Personal haben. Letztendlich muss die Politik Lösungen finden. Das setzt an beim PAG, wo, wann und in welchem Rhythmus gebaut wird, und geht weiter beim PAP bis zum aktiven Wohnungsbau. Gemeinden kommen nicht mehr daran herum, obwohl das nie ihre obligatorische Mission war. Da müssen wir aktiv werden, wobei die Frage die ist, ob wir das überhaupt hinbekommen, denn nicht jede Gemeinde verfügt über die gleichen Mittel. Wir haben im Rahmen des „Pacte Logement 2.0“ immerhin den Logement-Berater als Ansprechpartner bekommen.

Einen größeren Aufwand für die Gemeinden bedeutet die Leerstandssteuer …

…, die der Staat kassiert. Wir sind zwar mit der Idee einverstanden, aber nicht mit der Ausführung. Wir haben die Arbeit, aber der Staat profitiert. Das Problem ist die professionelle Erfassung der Leerstandsgebäude. Es hat auch keinen Sinn, das nur einmal zu machen, sondern es muss ständig begleitet werden. Hinzu kommt, dass viele Gebäude über kein „cadastre vertical“ verfügen, welches noch zusätzlich von den Gemeinden angelegt werden muss. Und dies wiederum bedeutet für die Gemeinden einen noch größeren Arbeitsaufwand.

Sind die Gemeinden nicht auch vielmehr als sozialpolitische Akteure gefragt?

Ja, wir im Norden haben beispielsweise das Resonord, wo sich mehrere Gemeinden zusammengetan haben, um Serviceleistungen im sozialen Bereich anzubieten. Sie gehen dabei über das hinaus, was sie eigentlich tun müssten. Oft fehlt die Vernetzung der sozialen Begleitung im Bereich Wohnen und bei der Kindererziehung. Die Probleme sind komplex, deshalb werden vielschichtige Lösungen benötigt.

Zurück zum Syvicol: Wichtig scheint Ihnen auch die obligatorische Konsultation des Dachverbandes der Gemeinden zu sein.

In diesem Kontext gab es ein Rundschreiben von Premierminister Xavier Bettel vom 1. Juli 2019 an die einzelnen Ministerien, in dem er fordert, die Meinung des Syvicol bei allen Gesetzesprojekten und Reglements einzuholen, welche die Gemeinden betreffen. Das Rundschreiben war ein großer Schritt in die richtige Richtung, aber reicht uns nicht aus, denn es kommt regelmäßig vor, dass wir bei manchen Dossiers noch immer nicht nach unserem Avis gefragt werden. Was wir im Interesse der Gemeinden brauchen, ist eine gesetzliche Verankerung der Konsultationen des Syvicol.

In einem früheren Interview forderten Sie mehr Risikobereitschaft in der Politik. Wie soll das aussehen?

Wer Fortschritt will, muss seine Grenzen überschreiten und Mut haben, neue Projekte anzugehen und innovative Menschen zu unterstützen. Das habe ich beispielweise im Leader-Programm gelernt, einem europäischen Netzwerk für ländliche Entwicklung, in der auch der Bottom-up-Gedanke steckt, die Leute vor Ort miteinzubeziehen.

Was wir im Interesse der Gemeinden brauchen, ist eine gesetzliche Verankerung der Konsultationen des Syvicol.

Emile Eicher, Syvicol-Präsident

Zur Person

Emile Eicher ist seit 2012 Präsident des Gemeindeverbandes Syvicol. Seit 1994 Mitglied des Gemeinderates und Bürgermeister der früheren Gemeinde Munshausen sowie seit Juli 2009 Parlamentsabgeordneter, wurde der 1955 geborene CSV-Politiker im Oktober 2011 Bürgermeister von Clerf. Er ist außerdem Vorsitzender der Gemeindesyndikate SICLER und „Naturpark Our“.