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„Was sich hochtrabend Weltordnung nennt und damit einen Hauch von Ewigkeit beansprucht, ist tatsächlich nur ein kurzer historischer Ausnahmezustand: 30 Jahre, in denen ein einziger Staat – die USA – als globaler Hegemon agieren konnte. (…) Weil der schillernde Begriff der liberalen Weltordnung aber letztlich unfassbar bleibt, ist er zugleich so populär. Die liberale Weltordnung wurde zur Ersatzideologie, als die Feindbilder des Kalten Krieges zerstoben.“ So weit der Chefredakteur der sehr liberalen „Neuen Zürcher Zeitung“, Eric Gujer, am 20. August 2021.

Der die Selbstüberschätzung der EU-Europäer kritisiert: „Die Europäer geben sich die strengsten Klimaziele und betrachten sich als Vorbild, während sich der Rest der Welt davon wenig beeindrucken lässt. Lernt der Westen keinen Realismus, wird er im unübersichtlichen 21. Jahrhundert viele Niederlagen erleiden.“

Letzteres ist zu befürchten. Die Welt wird nicht nur unübersichtlicher. Sie entfernt sich zusehends von den hehren Prinzipien, auf denen die Vereinten Nationen und die multilateralen Institutionen aufgebaut wurden.

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in der UdSSR und im Osten Europas verkündigte Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“. Die liberale Demokratie und die Marktwirtschaft hätten sich definitiv durchgesetzt. Samuel Huntington widersprach. Die Wiederkehr alter Ideologien sei durchaus möglich. Nationalismus und religiöser Fanatismus könnten die Oberhand gewinnen.

Huntington sollte recht behalten. Alte wie neue Ideologien sind zurück. Nicht nur im Namen Allahs erfolgen Attentate. Es waren 19 bloß mit Messern bewaffnete Männer, welche am 11. September 2001 vier Boeings in ihre Gewalt brachten, um die Anschläge in New York und Washington zu verüben. Damit einen „Krieg gegen den Terror“ auslösten, der zu militärischen Operationen der Amerikaner und ihrer Verbündeten gegen Afghanistan, Irak und Libyen führte.

Viele Religionen verhärten sich. Die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt, Indien, entwickelt sich zu einer „ethnischen Demokratie“ der Hindi. Die minoritären Muslime werden ausgegrenzt. Es ist offizielle Politik, gegen gemischte Ehen von Hindi und Muslimen vorzugehen. Obwohl alle offiziell indische Staatsbürger sind.

Seit 2018 ein Gesetz Israel zum „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ erklärte, geraten die vielen Minoritäten des Landes, nicht nur die Palästinenser, zunehmend unter Druck. Die illegalen Siedlungen auf palästinensischem Gebiet führen zu einer neuen Form der Apartheit.

Bornierter Nationalismus

Selbstgefälliger Nationalismus feiert Triumphe. Mit seinem „Make America Great Again“ gelang es Donald Trump, religiöse Eiferer und frustrierte Kleinbürger in einer unheiligen Allianz zu vereinen. Nicht nur seit dem Sturm auf das Kapitol ist die US-Demokratie schwer angeschlagen. Bolsonaro in Brasilien, Erdogan in der Türkei, Orban in Ungarn, die Kaczynskis in Polen stehen für weitere nationalistische Auswüchse. Mit Aushöhlung der rechtsstaatlichen Prinzipien.

Der Brexit, vollendet durch Boris Johnson, war ein weiterer nationalistischer Klimax. Angeblich sollte Großbritannien, losgelöst vom Diktat der Brüsseler Eurokraten, wieder zur imperialen Größe aufsteigen. Heute ist das Vereinigte Königreich tief gespalten. Vor allem wirtschaftlich ein „Loser“. Weniger Wachstum, mehr Inflation, weiterhin illegale Einwanderungen.

In Russland erledigte Putin eine ohnehin schwache Demokratie. Mit dem nationalistisch motivierten Überfall auf die Ukraine demontierte er überdies die Illusionen der EU vom „ewigen Frieden“ in Europa.

Lenin soll gesagt haben, dass oft viele Jahrzehnte ohne Veränderung der Geschichte vergehen. Doch manchmal würden in wenigen Wochen die Gewissheiten vieler Dekaden vernichtet. Die Weltgemeinschaft steht an einem solchen Wendepunkt. Kriege, Migrationswellen, Finanzkrisen, Protektionismus, Pandemien, Klimawandel widerlegen die Träume von einer besseren Welt.

Laut dem in Indien geborenen US-Journalisten Fareed Zakaria reagieren selbst die in parlamentarische Demokratien eingebetteten Völker sehr unerwartet. Nach der Finanzkrise von 2008, einem typischen Produkt kapitalistischer Spekulations-Exzesse, rückten gerade in Europa viele betroffene Staaten „nicht wirtschaftspolitisch nach links, sondern kulturell nach rechts“. Ökonomische Ängste bewirkten kulturelles Einigeln, mit steigender Ablehnung von Migranten und Ausländern.

Der Hegemon wankt

Die amerikanischen Hegemonie-Ansprüche wanken. Die USA sind zwar noch die militärische Supermacht. Mit über 100 Militärstützpunkten in allen Teilen der Welt. Auch können sie auf die meisten Alliierten mit der weltweit größten ökonomischen Schlagkraft zählen.

Doch die Attraktivität des amerikanischen Modells wird geringer. Immer mehr Staaten wehren sich gegen die einseitigen Wirtschaftssanktionen, gegen den Anspruch Washingtons, US-Rechtsprechung hätte Vorrang vor nationalen Gesetzen.

Innerhalb der UNO schlugen sich bei Abstimmungen über die Ukraine nur eine Handvoll Staaten offen auf die Seite Russlands. Über ein Drittel der 193 UNO-Mitglieder flüchteten sich in Stimmenthaltung oder Stimm-Abstinenz als es galt, Russland aus der Kommission für Menschenrechte auszuschließen. Diese Staaten repräsentieren weit über die Hälfte der Menschheit. Nicht nur China, auch Indien, viele afrikanische Staaten, angefangen mit Südafrika, vermeiden es, Russland zu verurteilen. Selbst Lulas Brasilien oder Erdogans NATO-Staat Türkei lassen sich nicht in die US-Sanktionen einspannen.

Die von den USA und der EU beschlossenen Sanktionen gegen Russland provozieren eine finanzpolitische Neuordnung. Der Ausschluss der russischen Banken aus SWIFT, der weltweit wichtigsten Clearing-Stelle für internationale Banken, beflügelte das 2017 von Moskau begründete elektronische Zahlungssystem SPFS. An dem immer mehr Banken der Dritten Welt angeschlossen sind. Darunter Banken aus China, Indien und selbst der Türkei.

Die steigenden Goldpreise signalisieren, dass viele Zentralbanken ihre Reserven verstärkt in Gold anlegen. Allen voran Chinas Zentralbank. Der Dollar ist auf dem Rückmarsch. Seit 2020 fiel der Anteil des Dollars in den Reserven der Zentralbanken von 66 auf 59 Prozent. Es gibt auch weniger ausländische Käufer von US-Bonds. Deren Anteil von 35 auf 25 Prozent gefallen ist.

Die einsetzende Neuordnung der globalen Finanzpolitik sowie des internationalen Handels wird den USA, aber vor allem den EU-Europäern zusetzen. Letztere sind dabei, ihre einst führende Industrie in Sektoren wie Stahl, Aluminium, Chemie und Automobil durch übertriebene, vom Rest der Welt nicht befolgte Umweltauflagen zu demontieren. Mit dem Inflation Reduction Act locken die USA mit erheblichen Subsidien und viermal niedrigeren Energiepreisen auch europäische Investoren an. Bayer und BASF haben schon Teile ihre Produktion verlegt. Andere werden folgen.

Vor allem verstärkt sich der Austausch zwischen den Staaten Asiens. Sowie der Handel der Asiaten mit Afrika und Südamerika. China ist erster Handelspartner von 130 der 193 Staaten.

Europas Illusionen

In Europa, auch in Luxemburg, gibt es Politiker, welche dies positiv sehen. Sie faseln von gebremstem Wachstum, von notwendigem Rückbau, von kurzen Wegen. Die Kommission will die Autonomie Europas stärken. Sicher, es wäre wunderbar, falls Europa wieder Selbstversorger bei Medikamenten würde. Batterien und Halbleiter selbst herstellen könnte. Unsere Energie-Abhängigkeit allein durch Erneuerbare und „grünen“ Wasserstoff umkehren könnte.

Doch die Batterien der E-Autos, der Handys und Computer funktionieren nur mit seltenen Metallen und noch selteneren Erden. Die in den Windrädern eingesetzten Magnete benötigen Neodym – ein Element, das fast nur China liefern kann. Wie die Chinesen unser Hauptlieferant für Lithium sind. Vor Argentinien, Australien und Chile. Alles nicht gerade „kurze Wege“. Auch die meisten Silizium-Waffeln für Sonnenpaneele stammen aus China.

Viele der zur angestrebten „Digitalisierung“ und „Energiewende“ benötigten Metalle und Erden sind in Europa nicht zu finden. Laut EU-Kommissar Thierry Breton liegt die Importquote von 14 der 27 benötigten kritischen Rohstoffe bei 100 Prozent. Werden seltene Metalle in Europa gefunden, wird sich deren Ausbeutung widersetzt. In Serbien musste die Regierung unter dem Druck von Umwelt-Aktivisten bereits erteilte Permits für den Abbau von Lithium stoppen.

In Demokratien ist es ungemein schwierig, notwendige Infrastruktur-Beschlüsse durchzusetzen. Die Ausbeutung von Kupfer, Kobalt, Lithium und anderen Mineralien belastet die Umwelt, zerstört Natur. Was uns nicht am Tesla-Fahren hindert oder an der Huldigung von erneuerbaren Energien. Solange die Materialgewinnung anderswo passiert, ist das kein Problem. Für uns.

Das bedrückendste Problem der neuen Weltordnung ist der Niedergang der Demokratien. Immer mehr Staaten, selbst wenn sie wie in Russland „Wahlen“ abhalten, entwickeln sich zu autokratisch geführten Regimen. Der demokratische Glanz strahlt nicht mehr. Von acht Milliarden Menschen leben kaum zehn Prozent noch in Demokratien, die diesem Anspruch gerecht werden. Sind Demokratien eine gefährdete Spezies?


Der Autor ist ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter
Der Autor ist ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter Foto: Editpress/Didier Sylvestre
Sam
5. Mai 2023 - 11.43

Der Zerfall der Demokratien liegt einfach daran, dass die Diktaturen Geld scheffeln, während die Demokratien immer mehr Lebensqualität aufgeben müssen. Lediglich bei Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, etc. haben wir noch eine Strahlkraft. Das Geld haben die anderen. Deswegen kommen jetzt auch viele auf die Idee die ADR zu wählen, was aber auch nichts bringen wird. Auch die ADR wird nur einem kleinen Teil der Bevölkerung zu mehr Reichtum verhelfen. Anders gesagt, lediglich die Arbeitgeber werden ihre Sprache wechseln.

Grober J-P.
2. Mai 2023 - 10.18

"Neue Weltordnung mit weniger Demokratie." Und Hawking wird Recht behalten, in 200 Jahren ist es Gott sei Dank vorbei.

max.l
2. Mai 2023 - 10.17

Alles gessoot, oder besser nach Alles geschriwwen, well mat Wieder kann een jongléieren, oder ët eventuel zweedäiteg ophuelen, oder, oft gët ët aanescht interpretéiert.. wéi Dat, wat de Sënn war.. beim schreiwen, par contre ,kann een nët op eemol soën ët wär gring a Plaatz vu rout, well do steet ët jo schwarz op wäiss.. an dat huet den Auteur ganz richteg gemeet, ganz ouni Chichi de Stand erklärt, esou wéi ët Haut leeft.. just, leider geet ët ouni Zweifel d'Baach eran, wa mër Allegouren nët agesin wéi d'Welt tickt

Phil
2. Mai 2023 - 7.51

Die EU nimmt sich selbst zu wichtig und hat sich zu einem schulterklopfendem Selbstläufer entwickelt, währenddem die Demokratie ihre eigenen Kinder frisst.