BulgarienFünfmal in nur zwei Jahren: Parlamentswahlen ohne klare Aussicht auf Regierungsmehrheit

Bulgarien / Fünfmal in nur zwei Jahren: Parlamentswahlen ohne klare Aussicht auf Regierungsmehrheit
Der ehemalige Regierungschef Kiril Petkow liegt mit seinem Wahlbündnis aus prowestlichen Reformparteien, PP-D, in Umfragen vorne Foto: AFP/Nikolay Doychinov

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Die Hoffnungen auf eine stabile Mehrheit sind gering. Aber dennoch werden die Bulgaren am Sonntag zum fünften Mal in zwei Jahren ein neues Parlament wählen. Interimsregierungen werden zum Dauerzustand: Scheitert der Koalitionspoker erneut, könnten im Herbst erneute Neuwahlen drohen.

Dem Dauerruf an die Urnen wollen immer weniger Bulgaren folgen. Bei der letzten Parlamentswahl im Oktober war die Wahlbeteiligung auf das Rekordtief von 39,4 Prozent gesunken. Am Sonntag dürfte diese bei der fünften Parlamentswahl in zwei Jahren noch weiter absacken.

Von der „Gefahr“, dass vom Staatschef eingesetzte Interimsregierungen zum „Dauerzustand“ werden könnten, spricht Rechtsanwalt Emil Georgiew von der Juristen- und Bürgerrechtler-Initiative „Gerechtigkeit für alle“: „Das Unvermögen der Parlamentsparteien, eine Regierungsbildung zu organisieren, macht sich Staatschef Rumen Radew geschickt zu Nutze.“

Letzte Umfragen sehen das Wahlbündnis der prowestlichen Reformparteien PP-DB um Ex-Premier Kiril Petkow mit einem Viertel der Stimmen knapp vor der konservativen Gerb-Partei von Ex-Premier Bojko Borissow. Die EU- und NATO-Partner drängen die beiden stärksten prowestlichen, aber tief verfeindeten Kräfte zu einer Kooperation – egal, ob durch Duldung einer Minderheitsregierung oder ein gemeinsames Technokraten-Kabinett.

Falls die Gerb-Partei die zweitstärkste Kraft sein werde, sei es „wahrscheinlich“, dass sie auf Druck ihrer europäischen Partner „in irgendeiner Form“ den Versuch einer Regierungsbildung durch die PP-DB zunächst unterstützen werde, so Georgiew. Als „Stolperstein“ für ein derartiges Zweckbündnis könnte sich jedoch die von der PP-DB forcierte Justizreform entpuppen: „Eine funktionierende Staatsanwaltschaft könnte hier in Sachen Korruption, Seil- und Machenschaften viel aufdecken. Und davor hat Gerb wirklich Angst.“

„Euroatlantische“ und prorussische Kräfte

Egal, ob das künftige Parlament fünf oder acht Fraktionen zählen wird: Es sind mehrere politische Trennlinien und Verwerfungen, aber auch die Folgen des Ukraine-Kriegs, die die Bildung einer Regierungsmehrheit erschweren. Zum einen stehen den oligarchennahen „Systemparteien“ wie Gerb, die DPS der türkischen Minderheit oder den geschrumpften Sozialisten (BPS) sich ständig ändernde Reform- und Protestparteien gegenüber, die für einen entschiedenen Kampf gegen Korruption und Vetternwirtschaft streiten. Zum anderen hat der Ukraine-Krieg die Parteien von rechts bis links noch stärker als zuvor in sogenannte „euroatlantische“ und prorussische Kräfte geteilt.

Gerb habe im Gegensatz zum isolierten PP-DB-Bündnis mindestens „drei Koalitionsoptionen“, beteuert Parteichef Borissow. Tatsächlich bündelte Gerb im Vorfeld der Wahlen selbst mit dem sozialistischen Erzfeind BSP die Kräfte, um die Abkehr von den bei den letzten Urnengängen erfolgreich erprobten Wahlmaschinen und die Rückkehr zur umstrittenen, da in Bulgarien stark manipulationsanfälligen Papierauszählung der Stimmen zu erzwingen.

Obwohl Gerb in der Vergangenheit auch schon mit nationalistischen Kräften ins Koalitionsboot stieg, dürften die europäischen EVP-Partner deren Partnerwahl enge Grenzen setzen: Ein Pakt der klar auf NATO-Kurs segelnden Gerb mit offen russophilen Kräften wie der nationalistischen „Wiederbelebung“ oder der sozialistischen BSP scheint eher unwahrscheinlich.

Interimsregierungen überdenken

Beim Koalitionspoker sei „alles möglich“ – vor allem dessen Scheitern, umschreibt Georgiew das Spektrum der Nachwahlszenarien: Einer weiteren vom Präsidenten installierten Interimsregierung würden dann im Herbst erneute Neuwahlen folgen – zeitgleich mit den Kommunalwahlen.

Mit jeder vergeblichen Wahl und jeder neuen Interimsregierung scheint sich Bulgarien mehr und mehr von einer parlamentarischen zu einer präsidialen Demokratie zu wandeln. Doch nicht nur die zunehmende Wahl- und Demokratieverdrossenheit erfüllt Analysten mit Sorge. Ohne handlungsfähige Regierung ließen sich Konflikte wie mit dem EU-Anwärter Nordmazedonien kaum beilegen, warnt Georgiew: „Im Dauerwahlkampf lassen sich keine für eine Lösung nötige Zugeständnisse machen.“

Mit einer kurzen Unterbrechung werde das Land bereits seit fast zwei Jahren von Interimsregierungen geführt, die laut der Verfassung eigentlich nur Neuwahlen vorbereiten sollten, klagt der Jurist. Zwar müssten deren Minister dem Parlament auch Rechenschaft ablegen, seien aber nicht abwählbar, sondern könnten nur durch den Staatschef abberufen werden: „Es mehren sich die Stimmen, den Sinn der Interimsregierungen zu überdenken – und die Kompetenzen des Präsidenten einzuschränken.“