SchottlandNationalisten in Nöten – brutaler Kampf um Nachfolge von Ministerpräsidentin Sturgeon

Schottland / Nationalisten in Nöten – brutaler Kampf um Nachfolge von Ministerpräsidentin Sturgeon
Mit Sturgeons Abschied von der Parteispitze geht eine Ära zu Ende Foto: AFP/Peter Summers

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Um die Nachfolge von Ministerpräsidentin Sturgeon tobt unter Schottlands Nationalisten ein heftiger Kampf. Der Blick richtet sich auf den Montag. Da wird das Ergebnis erwartet.

Wenn die schottische Nationalpartei SNP an diesem Montag ihre Nachfolge-Lösung für die zurückgetretene Vorsitzende Nicola Sturgeon bekannt gibt, können hochfliegende Rhetorik und hübsche Plakate in der Parteifarbe Gelb nicht über die tiefe Besorgnis in den Nationalisten-Rängen hinwegtäuschen. Mit der Dominanz in der schottischen Politik gehe es zu Ende, prophezeit James Kanagasooriam vom Marktforscher Focaldata: „Die SNP könnte bald in richtigen Schwierigkeiten stecken.“

Allzu deutlich wurde in den Wochen seit Sturgeons überraschender Rückzugsankündigung, dass sich eine Ära dem Ende zuneigt. Das hat in erster Linie mit den großen Fußstapfen der zierlichen Ministerpräsidentin zu tun, einem der größten Talente in der britischen Politik des 21. Jahrhunderts. Keiner ihrer drei Nachfolge-Kandidaten reicht annähernd an Sturgeons Statur heran.

Als großer Favorit auf den Sieg in der Urwahl durch die rund 72.000 Partei-Mitglieder gilt der bisherige Gesundheitsminister Humza Yousaf. Er hat sich selbst zum „Kandidaten der Kontinuität“ ausgerufen, unverkennbar ruht die Gunst der Parteispitze um Sturgeon auf ihm. Mit seinen Konkurrentinnen, Finanzministerin Kate Forbes und Ex-Justizstaatssekretärin Ash Regan, lieferte sich der 37-Jährige eine teils brutale Auseinandersetzung.

Rückständige Klänge

Forbes’ Beliebtheitswert in der Bevölkerung liegt höher als Yousafs. Doch sind viele Schotten, nicht zuletzt die eher links stehenden Mitglieder der gemäßigt sozialdemokratischen Partei, misstrauisch gegenüber dem Mitglied einer Freikirche. Sie halte Sex außerhalb der Ehe sowie Abtreibungen für falsch, hat Forbes mitgeteilt; sie werde aber die geltenden Gesetze, darunter auch die Schwulenehe, verteidigen: „Ich glaube fest an die angeborene Würde jedes Menschen.“ Das klinge doch alles sehr rückständig gegenüber der „progressiven Mehrheitsmeinung“, kritisierte Sturgeon ihre Ministerin.

Progressiv war unter der Regentschaft von „Königin Nicola“ die Steuer- und Sozialpolitik. Einer Berechnung des Instituts für Fiskalstudien zufolge verfügt das ärmste Zehntel der Haushalte in Schottland über 658 Euro mehr als ihre Pendants in England und Wales. Finanzieren müssen dies die reichsten zehn Prozent der Haushalte: Sie stehen durchschnittlich 2.937 Euro schlechter da als im britischen Süden. „Kinder aus der Armut zu befreien“, das sei die wichtigste Errungenschaft ihrer achtjährigen Amtszeit, sagt die Ministerpräsidentin.

Von den Schattenseiten spricht die Opposition: Nach insgesamt 16 SNP-Regierungsjahren hinkt die Lebenserwartung der Bevölkerung um drei Jahre hinter England zurück; schottische Schüler schneiden in Vergleichstests schlechter ab als junge Engländer oder Waliser; die Zahl der Drogentoten liegt dreimal so hoch wie im Rest des Königreichs, womit Schottland den Spitzenplatz in Westeuropa einnimmt.

Affären und Halbwahrheiten

Blamiert hat sich die Partei mit dubiosen Finanzaffären und Halbwahrheiten gegenüber der Öffentlichkeit, für die mit seinem Rücktritt SNP-Generalsekretär Peter Murrell, im Privatleben Sturgeons Ehemann, die Verantwortung übernahm. Nicht nur ermittelt die Kriminalpolizei wegen Unregelmäßigkeiten von sechsstelliger Höhe in der Parteikasse. Wochenlang hatte der Generalsekretär auch behauptet, die Partei verfüge noch immer über mehr als 100.000 Mitglieder. Dabei haben binnen 14 Monaten rund 30.000 Schotten die SNP verlassen.

Bei ihrem Hauptanliegen, der Auflösung der seit 316 Jahren bestehenden Union mit England und Wales, ist Sturgeon keinen Schritt vorangekommen. Man habe „keinen Fortschritt bei der Unabhängigkeit“ gemacht, kritisiert Ash Regan, „trotz der schlechtesten britischen Regierungen seit Menschengedenken“ unter Theresa May, Boris Johnson und Liz Truss.

Mit Bangen sehen die Nationalisten nun Premier Rishi Sunak dabei zu, wie dessen ruhige Regierungsarbeit die Tory-Partei beruhigt und sich vorsichtig der EU annähert. Vor allem aber fürchtet die SNP den von allen Meinungsforschern prophezeiten Labour-Wahlsieg. Denn dann wären die bösen Londoner Torys mit einem Schlag als Feindbild passé.