ForumPlattform-Arbeit: Vorwärts ins 19. Jahrhundert?

Forum / Plattform-Arbeit: Vorwärts ins 19. Jahrhundert?
 Foto: Editpress/Hervé Montaigu

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Der sogenannte Plattform-Kapitalismus soll in vielerlei Hinsicht ein Zukunftsmodell sein. In Sachen Arbeitsbedingungen und -recht aber führt er geradewegs in Zustände wie im 19. Jahrhundert – auch in Luxemburg.

Als es Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20. Jahrhunderts erste Bestrebungen gab, die mit der industriellen Revolution einhergehenden menschenunwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterschaft zu verbessern, hielt sich die Begeisterung seitens der Fabrikbesitzer und ihrer Alliierten in der Politik dafür in Grenzen. Dementsprechend versuchten sie über die Jahrzehnte immer wieder, gewerkschaftliche Organisierung zu unterbinden, ein starkes Arbeitsrecht zu verhindern oder zu umgehen, Lohn- und Arbeitsbedingungen anzugreifen und zu verschlechtern.

Trotz allem gelang es der Arbeiterbewegung in langen, zähen Kämpfen und entgegen aller Widerstände, die Arbeitszeit zu reduzieren, die Löhne zu erhöhen, Mindestlöhne und starke Sozialversicherungen durchzusetzen.

Immer wieder gab es Versuche, diese wichtigen sozialen Errungenschaften zu unterhöhlen und anzugreifen. Der sogenannte Plattform-Kapitalismus greift hierfür auf ein besonders perfides Mittel zurück: Anstatt ihre Beschäftigten über einen Arbeitsvertrag zu verpflichten und ihnen dafür im Gegenzug feste Arbeitszeiten, Mindestlohn und Sozialversicherung schuldig zu sein, degradiert er sie zu Pseudo-Selbstständigen, die weder über Arbeitnehmerrechte noch über die Unabhängigkeit von wirklich Selbstständigen verfügen.

Beispiele von solchen Plattformen kennen wir alle. Eine von ihnen hat sogar einen eigenen Begriff geprägt: Als „Uberisierung“ bezeichnet man ein Wirtschaftsphänomen, das Anbieter und Kunden mithilfe von neuen Technologien direkt, also ohne Zwischenhändler, in Kontakt bringen soll.

Spätestens seit der Pandemie haben sich Plattformen wie WeDely oder Goosty, die nach dem Geschäftsmodell von international Vorbilden UberEats und Deliveroo funktionieren, auch in Luxemburg etablieren können. „Essen ist: Notwendigkeit, Gesundheit, Freude, Zusammensein und ein Erlebnis. Oft sind wir durch persönliche Unannehmlichkeiten und wegen der Arbeit dazu gezwungen, auf all das zu verzichten. WeDely möchte allen die Gelegenheit geben, die Geschmäcke aus aller Welt zu genießen, die in den Küchen der Restaurants Ihrer Stadt gekocht werden.“ Mit diesen Worten wirbt die Lieferplattform WeDely auf ihrer Homepage. In keinem Wort werden dort die Arbeitsbedingungen der LieferfahrerInnen erwähnt. Besser ist es wahrscheinlich, würden es sich sonst doch wohl einige zweimal überlegen, bevor sie dort bestellen.

Recht auf feste Arbeitszeiten und bezahlten Urlaub

Um die 1.100 Fahrer sind in Luxemburg bei WeDely, der größten Lieferplattform für Essen, angemeldet. Um die 400 fahren tagtäglich Essen aus. Eins haben sie alle gemeinsam: Sie sind nicht durch einen Arbeitsvertrag an die Plattform gebunden, sondern sind – wenigstens auf dem Papier – Selbstständige.

Aber auch nur auf dem Papier: In der Realität entscheiden sie, im Gegensatz zu wirklich Selbstständigen, herzlich wenig. Weder über Preise, noch über Lieferwege, noch über Kundenkontakte können sie frei verfügen. Sie werden rund um die Uhr von einer App kontrolliert, bewertet und sind potenziellen automatisierten Sanktionen ausgesetzt.

Diese Fahrer haben weder Anrecht auf einen Mindestlohn noch auf feste Arbeitszeiten oder bezahlte Urlaubstage. Werden sie krank, verdienen sie kein Geld. Gerade während der Corona-Pandemie war das auch für die Allgemeinheit gefährlich: So wurden dem OGBL Fälle von Fahrern zugetragen, die trotz Covid-Erkrankung Essen auslieferten, weil sie sonst kein Geld verdienten.

Mit Arbeitszeiten von bis zu zwölf Stunden am Tag, sieben Tage die Woche – weit über den für Arbeitnehmer festgelegten Obergrenzen – verdient ein Fahrer, der ordnungsgemäß seine Steuern und anderen Abgaben als Selbstständiger zahlt, knapp 2.000 Euro im Monat. Weit unter dem Niveau des gesetzlichen Mindestlohns für Beschäftigte also.

Es ist aber davon auszugehen, dass in vielen Fällen die Steuern und sonstigen Abgaben nicht ordnungsgemäß gezahlt werden – auch weil die Plattformen den Fahrern keinerlei Hilfestellung dabei bieten, beziehungsweise keine Vorgaben in die Richtung machen. Dass einige keine Steuern zahlen und nicht ordnungsgemäß angemeldet sind, liegt aber auch an einem anderen Umstand: Oft handelt es sich bei diesen Lieferfahrern auch um Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung, die über diesen Weg an Geld zu kommen versuchen.

Dabei fördern Plattformen wie WeDely perverse Praktiken auch unter „Kollegen“: So kommt es schon mal vor dass ein Lieferfahrer, der über eine Aufenthaltsgenehmigung und die nötigen Papiere verfügt, seinen Account und damit die Möglichkeit zu arbeiten einer Person, die nicht über Papiere verfügt, „zur Verfügung stellt“ – mittels einer Gewinnbeteiligung von 20 Prozent oder mehr.

Die Besitzer von Plattformen wie WeDely und deren Vorbilder UberEats und Deliveroo beuten für schnellen Profit gezielt Menschen in prekären Lebenssituationen aus und schrecken für Profitmaximierung vor nichts zurück. Sie sind das beste Beispiel dafür, warum es starke Gewerkschaften und ein restriktives Arbeitsrecht braucht: Ohne Gewerkschaften und das von ihnen erkämpfte Arbeitsrecht würden überall noch Zustände wie in den Gruben und Fabriken des 19. Jahrhunderts herrschen.

Es geht nicht darum, die Lieferdienste zu verbieten

In dem Sinne haben Gewerkschaften seit einiger Zeit in mehreren europäischen Ländern gezielte Anstrengungen unternommen, sogenannte Plattform-Arbeiter zu organisieren und mit ihnen für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu kämpfen. Auch in Luxemburg nehmen vermehrt Lieferfahrer Kontakt mit dem OGBL auf, um sich zu organisieren. Dabei ist die zentrale Forderung all jener Kämpfe die nach einem Arbeitsvertrag, der nicht nur das ohnehin existierende Beschäftigungsverhältnis geltend macht, sondern den Betroffenen auch Anspruch auf Mindestlohn, geregelte Arbeitszeiten und bezahlten Urlaub gibt.

In dem Sinne sind sowohl der Vorschlag hinsichtlich einer europäischen Direktive von Kommissar Nicolas Schmit als auch der rezente Vorstoß von Arbeitsminister in Richtung einer nationalen Gesetzgebung begrüßenswert. Es gilt, dem Phänomen Scheinselbstständigkeit schnellstmöglich einen Riegel vorzuschieben, bevor es sich weiter verbreitet macht und uns in Sachen Arbeitsrecht um zwei Jahrhunderte zurückwirft.

Entgegen dem, was nämlich vonseiten der Arbeitsgeberverbände behauptet wird, sind solche Plattformen und die damit einhergehende Scheinselbstständigkeit bereits Realität in Luxemburg. Wer jetzt erst mal abwarten will, der riskiert, so lange abzuwarten, bis es zu spät ist. Macht das Modell Schule, wird es immer schwerer, es zu stoppen.

Dabei geht es nicht darum, Lieferdienste allgemein oder spezifisch über Apps funktionierende Lieferdienste abzuschaffen und zu verbieten. Dass es einen Bedarf nach solchen Dienst, scheint klar – auch wenn man natürlich argumentieren kann, dass hier künstlich ein Bedarf geschaffen wurde, den es davor nicht gab.

Genau wie es der Gewerkschaftsbewegung im 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht darum ging, die industrielle Revolution zu stoppen und die Fabriken zu demontieren, so geht es auch heute nicht darum, KundInnen von Lieferdiensten ihre abendliche Pizza wegzunehmen.

Wie damals geht es auch heute vielmehr darum, menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen für die betroffenen ArbeiterInnen zu erkämpfen. Der erste Schritt in die Richtung muss daher die gesetzliche Anerkennung des Beschäftigungsverhältnisses sein. Ein Zurück in Zustände wie im 19. Jahrhundert darf es nämlich auf keinen Fall geben.


David Angel ist Zentralsekretär des OGBL-Syndikats Handel
David Angel ist Zentralsekretär des OGBL-Syndikats Handel Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante