In einer dunkelblauen Stunde„Alles Lebendige entzieht sich der Festlegung“: Peter Stamm über seinen neuen Roman

In einer dunkelblauen Stunde / „Alles Lebendige entzieht sich der Festlegung“: Peter Stamm über seinen neuen Roman
Peter Stamm: „Ich habe mich nie dafür interessiert, über mich selbst zu schreiben“ (C) Anita Affentranger

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„In einer dunkelblauen Stunde“, der neue Roman des 2018 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichneten Peter Stamm, erzählt oberflächlich die Geschichte eines gescheiterten Dokumentarfilmprojekts über den fiktionalen Schriftsteller Richard Wechsler. Vor allem geht es aber um Freundschaft, Liebe, Literatur, um die Unmöglichkeit einer Biografie – und die Fähigkeit, mithilfe unserer Vorstellungskraft die blinden Flecken der Wirklichkeit auszumalen. Das Tageblatt hat sich mit dem Schriftsteller unterhalten.

„Wenn ich jetzt sterben müsste, würde ich sagen: Das war alles? Und: Ich habe es nicht so richtig verstanden. Und: Es war ein bisschen laut.“ Dies sind ironischerweise Auszüge aus einem der letzten Gespräche, die Andrea, Dokumentarfilmemacherin, mit dem Schriftsteller Richard Wechsler führt. Kennengelernt hat sie Wechsler in Paris, als sie dort zusammen mit ihrem Partner Tom begonnen hat, einen Film über dessen Leben zu drehen.

Jener Film soll Andreas Karriere wieder in Schwung bringen, während der Pariser Drehtage deutet sich so was wie ein Flirt oder eine Freundschaft zwischen ihr und dem Autor an. Das Filmkonzept klingt dabei zu Beginn recht schnörkellos: Der Streifen soll Wechsler in seiner Wahlheimat Paris zeigen und ihn anschließend auf einer Reise zurück in sein Kindheitsdorf und beim Entstehungsprozess seines neuen Romans begleiten.
Als sie mit Tom im Hotel des kleinen Schweizer Heimatdorfs des Schriftstellers eincheckt, häufen sich jedoch die Probleme: Wechsler taucht nicht auf – und die Nähe zu Tom lässt Andrea feststellen, dass sie die Anwesenheit ihres Freundes immer weniger verträgt.

Nach und nach verdichten sich Wirklichkeit, Tagträume, gelebte, gefilmte, geschriebene und imaginierte Erinnerungen zu einer Art postmodernen Puzzle, in dem die Literatur einen Ausweg aus einer allzu eindimensionalen und gleichzeitig chaotischen Wirklichkeit bietet.

Mit Peter Stamm haben wir uns abseits jeder YouTube-Videovorschläge über Serienmörder und Wettervorhersagen – alles wichtige semantische Bestandteile von Andreas Erzählung – in einem Mailaustausch unterhalten – über seinen neuen Roman, die Wirklichkeit als Ort vieler Realitäten und die Unmöglichkeit, einen Menschen abseits der Beziehungen, die er zu andern führt, zu ergreifen.

Tageblatt: „In einer dunkelblauen Stunde“ handelt von einem Schriftsteller, über den ein Dokumentarfilm gedreht werden soll. Wie viel Selbstporträt beinhaltet eine solche „Mise en abyme“ – und wie viel Distanz zur eigenen Schriftsteller-Persona?

Peter Stamm: Was Wechsler über das Schreiben sagt, würde ich zum größten Teil auch sagen, da sind wir einer Meinung. Aber sein Leben ist erfunden, auch wenn er aus demselben Dorf kommt wie ich und ein paar meiner Bücher geschrieben hat. Ich habe mich nie dafür interessiert, über mich selbst zu schreiben. Was würde es mir bringen? Meine Figuren müssen frei sein, auch frei von autobiografischen Verpflichtungen, nur so können sie sich entwickeln.

Als ich 2018 im Zug nach Cannes Ihren Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ las, sah ich zeitgleich, dass im Rahmen der Filmfestspiele ein Film, der „The Gentle Indifference of the World“ hieß, laufen würde – trotz des fast identischen Titels handelte es sich, wie das Internet mir verriet, keineswegs um eine Verfilmung Ihres Romans, sondern um einen dieser Zufälle, wie er eigentlich in einer Peter-Stamm-Erzählung auftauchen könnte. In Ihren Büchern gibt es Doppelgänger, die Wirklichkeit wirkt oftmals, als wäre sie nur eine von vielen möglichen Welten. Woher kommt diese Faszination für plurale Realitäten?

So sehe ich einfach die Welt: als einen Ort vieler Realitäten. Spätestens als ich in der Schule von Platons Höhlengleichnis erfuhr, begriff ich auch, warum das so ist. Jede und jeder hat seine Realität und diese Realitäten können sich massiv widersprechen. Trotzdem bleibt eine Sehnsucht nach der einen, wahren Realität, die ihre Schatten in unser Bewusstsein wirft. Ich glaube, ein großer Teil unserer Kommunikation hat den Zweck, unsere Realitäten gegeneinander auszuspielen oder auch miteinander abzugleichen, etwa wenn wir uns in der Familie Erinnerungen erzählen, um eine Art gemeinsame Familienchronik zu erschaffen. In meinen Büchern geht es aber eher darum, dass Menschen die Realitäten anderer Menschen kennenlernen und zu verstehen versuchen.

Andrea, die Erzählerin Ihres Romans, hat eine sehr rege Vorstellungskraft und stellt sich alternative Welten vor, in denen nicht nur das Verhältnis anderer Figuren zu Richard Wechsler, sondern auch ihre eigene Relation zum Schriftsteller weitergesponnen wird. Wie wichtig ist Ihnen das Spiel zwischen Wahrheit und Dichtung, Realität und Tagtraum?

Im Grunde ist mir Andrea ähnlicher als Wechsler. Auch ich denke in Möglichkeiten, stelle mir Situationen vor, gehe in Gedanken mit realen Menschen um. Es ist eine Art, die Welt zu verstehen, indem man Möglichkeiten durchprobiert. Ich habe mal geschrieben, dass ich nicht über den Menschen schreibe, der ich bin, sondern über jene, die ich sein könnte. Menschliche Kreativität ist vermutlich nichts anderes als die Fähigkeit, sich Dinge vorzustellen, die nicht oder noch nicht sind.

Es gibt in Ihrem Roman sehr lustige Stellen über die Absurdität der nicht versiegenden Informationsflut im Internet. Diese Absurdität ergibt sich, indem Andrea diese Infos quasi kommentarlos nebeneinanderstellt oder sich tatsächlich für die ihr zufällig vorgeschlagenen Themengebiete interessiert – sehen Sie YouTube und Co. als eine Art Gegensatz der Erzählkunst, in der Struktur und Organisation dem Chaos der Realität immer ein wenig entgegenwirken?

Das Internet ist so chaotisch wie die Welt selbst. Man kann darin manchmal Strukturen erkennen, aber die sind vermutlich zufällig. Diese Zufälle kann man aber kreativ nutzbar machen. Ich habe in diesem Buch ganz bewusst mit dem Zufälligen gearbeitet, habe zum Beispiel auch immer das Wetter aus der Schreibrealität ins Buch übernommen. Wenn es während des Schreibens lange trocken und heiß war, war es das im Buch auch. Der Zufall ist ein starkes Mittel, aber man muss mit ihm umgehen können und darf sich nicht von ihm beherrschen lassen.

Richard Wechsler ist der große Abwesende dieses Romans – zu Beginn wartet man auf ihn wie auf Godot, im zweiten Teil findet dann sein Begräbnis statt. Wieso dieses Porträt in absentia?

Das kann ich nicht wirklich erklären, aber dass er nicht kommen würde, war von Anfang an klar. Sein Tod hat sich dann erst während des Schreibens ergeben. Es geht im Buch ja unter anderem um die Unmöglichkeit, einen Menschen darzustellen. Alles Lebendige entzieht sich der Festlegung. Indem Wechsler stirbt, wird er vielleicht greifbarer, aber nicht wirklich erklärbarer. Er ist eher ein Katalysator für die Beziehungen der anderen Figuren als die Hauptfigur. Und irgendwie steckt in der Struktur des Romans dann doch viel von ihm, aber eben nicht in Form von Fakten oder Beschreibungen.

In einer Archivschachtel findet Andrea einen Artikel aus dem New Yorker, ihr fällt der finale Satz „Much must be left unsaid, unseen, unlived“ auf. Ist „In einer dunkelbauen Stunde“ ein Antwortversuch auf die im Roman gestellte Frage, wie man von einem Leben erzählt, ohne ins Biografische zu verfallen? Und das Zitat aus dem Artikel eine Art ästhetischer Grundsatz? Kann man das, was ungelebt bleibt, mit den Mitteln der Fiktion ausmalen?

Ich glaube, ein großer Teil unserer Kommunikation hat den Zweck, unsere Realitäten gegeneinander auszuspielen oder auch miteinander abzugleichen

Eine Freundin hat mir geschrieben, dass sich für sie die Figuren beim Lesen immer mehr angenähert und vermischt hätten, dass am Schluss eigentlich nur die Beziehungen zwischen ihnen geblieben seien. Das fand ich eine schöne Beschreibung des Romans. Im Grunde bestehen wir doch alle nur aus den Beziehungen, die wir zu anderen Menschen haben. Wenn ich alleine in den Bergen unterwegs bin, habe ich manchmal das schöne Gefühl, mich aufzulösen und nur noch aus meinen Wahrnehmungen zu bestehen. Und da kommt dann vielleicht die Fiktion zum Zug. Indem wir erzählen, erschaffen wir uns ein Leben. Eine gute Geschichte ist ja etwas ganz anderes als ein Lebenslauf, den wir einer Stellenbewerbung beilegen und der eigentlich überhaupt nichts über uns aussagt. In einer guten Geschichte kann sich eine Figur in einer einzigen Tat oder einem einzigen Satz zeigen.

„Es gibt zu allem eine Geschichte, es ist wie bei diesen Mandelbrotbäumen, wo in jedem Muster neue, noch feinere Muster stecken, man kann so nahe herangehen, wie man will, es hört nie auf, eine Geschichte in der Geschichte in der Geschichte.“ Wie gehen Sie mit dieser unendlichen Verschachtelung der Geschichten um? Fasziniert Sie dieses Labyrinth, oder ermüdet einen dieser unendliche Sog irgendwann, wie es David Foster Wallace in Bezug auf die literarische Postmoderne, die diese Art der Schachtelerzählung ja auf die Spitze getrieben hat, einmal zum Ausdruck brachte?

Da braucht es eben die starke Hand des Künstlers oder der Künstlerin, der oder die eine Auswahl trifft, das für ihn oder sie Wesentliche herausarbeitet und das andere weglässt. Die meiste Kunst erschafft ja nicht etwas aus dem Nichts, sondern geht von Vorhandenem aus. Aber das war schon immer so. Ich glaube nicht, dass die Welt der alten Römer oder des Mittelalters weniger chaotisch war als unsere.

Das Scheitern bringt uns oft weiter als das Gelingen, weil es uns verunsichert und dadurch neue Türen aufmacht, neue Blicke ermöglicht

Letztendlich ist Ihr Buch auch ein Roman über ein gescheitertes Projekt: Andreas Dokumentarfilm wird nie zu Ende gedreht, Andrea sieht sich selbst als Figur, „die nicht zu Ende geschrieben wurde“ und im „Limbus der ungeborenen Romanfiguren“ „umherirrt“. Sehr interessant sind in diesem Kontext die Spannungsfelder zwischen Film und Roman, aber auch zwischen Dokumentation und Fiktion, die den Roman durchziehen: Immer wieder beschreiben Sie mögliche oder tatsächlich gedrehte Sequenzen des Dokumentarfilms. Welche Funktion haben Film und Dokumentation im Roman?

Ich habe kürzlich gesagt, dass die Schwäche der künstlichen Intelligenz sei, dass sie keine Fehler machen könne. Also keine kreativen Fehler. Das Scheitern bringt uns oft weiter als das Gelingen, weil es uns verunsichert und dadurch neue Türen aufmacht, neue Blicke ermöglicht. Der Film steht wohl einfach für die falschen Bilder, die wir uns machen, darüber habe ich seit meinem ersten Roman „Agnes“ geschrieben. Eigentlich haben alle meine Figuren lernen müssen, dass die Bilder, die sie sich machten, nicht genügten. Und manchmal durften sie für kurze Momente eine andere Art von Wirklichkeit sehen, Momente der Leere, die für sie zugleich glücklich und erschreckend waren.

Im Gegensatz zu Wechsler, der als Kulturschaffender lebt und stirbt, spiegelt sich in Andreas Werdegang das Ende einer künstlerischen Karriere und die Langeweile der Arbeitswelt – „ich komme mir selbst ein bisschen vor wie in Plastikfolie verpackt“, schreibt sie im dritten Teil des Romans. Und doch gelingt es Ihrer Erzählerin irgendwie, aus dieser Dichotomie zwischen Neoliberalismus und Kultur auszubrechen …

Ich glaube nicht, dass Andrea am Ende ihres Weges ist. Vielleicht bricht sie irgendwann aus dem Büro aus und schreibt einen Roman oder macht ein Restaurant auf oder wird doch noch Friedhofsgärtnerin. Das habe ich kürzlich einem Kollegen von mir vorgeschlagen, der mit seinem Schreiben haderte. Er fand die Idee nicht schlecht.

Während Andrea die Romannotizen von Wechsler liest, erscheint ihr dieses nie geschriebene Buch als verwinkeltes Gedankengebäude. Wäre dies eine treffende Umschreibung Ihres Romans, der sich aus verschiedenen (Un)wirklichkeitsebenen zusammensetzt?

Verwinkelt, aber nicht chaotisch, ja. Von Zufällen geformt, aber nicht zufällig. Vielleicht auch einfach ein Stück Welt in all ihrer Komplexität und Unverständlichkeit. Es würde mich freuen, wenn das Buch so wahrgenommen wird.

Info

Peter Stamm, „In einer dunkelblauen Stunde“, 2023
S. Fischer Verlag
256 Seiten, 24 Euro