Dritter JahrestagKlare Mehrheit der Briten: Brexit war ein Fehler

Dritter Jahrestag / Klare Mehrheit der Briten: Brexit war ein Fehler
„Der Brexit hat das Vereinigte Königreich fertig gemacht“, meint dieser Protestler in London Foto: Victoria Jones/PA Wire/dpa

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Der dritte Jahrestag eines politischen Ereignisses lockt normalerweise keinen Hund hinterm Ofen hervor. Im Verhältnis des Vereinigten Königreiches zum europäischen Einigungsprojekt aber spielen in diesem Monat mehrere Daten eine signifikante Rolle.

Zu Jahresbeginn waren es 50 Jahre her, dass Großbritannien sowie Irland und Dänemark der damaligen EWG beitraten – ein schönes Jubiläum, das auf der Insel komplett ignoriert wurde. Das lag natürlich an jenem Jahrestag, der sich diesen Dienstag zum dritten Mal jährt: dem EU-Austritt in der Nacht vom 31. Januar zum 1. Februar 2020.

Und zehn Jahre ist nun bereits die Initialzündung für diesen Isolationsschritt her: Im Januar 2013 gab der damalige Premier David Cameron den Nationalpopulisten innerhalb und außerhalb seiner Partei nach und stellte eine Volksabstimmung über die britische EU-Mitgliedschaft in Aussicht. 52:48 Prozent lautete im Juni 2016 das knappe Resultat.

Damals fühlten sich vor allem viele Engländer als Gewinner, die in den vernachlässigten Regionen der Insel leben. In der ostenglischen Grafschaft Lincolnshire stimmten im Juni 2016 mehr als 70 Prozent der Wahlberechtigten für den Brexit, und landesweit vorn dran lagen mit 75,6 Prozent die Bewohner des Marktstädtchens Boston, Namensgeberin der viel berühmteren Siedlung auf der anderen Seite des Atlantiks.

Gehörten die rund 35.000 Bostonians damals zur Mehrheit der Bevölkerung, so stehen sie dieser Tage ganz allein. Einer Befragung des Marktforschers Focaldata für die Website Unherd zufolge befinden sich außer in Boston auf der Insel inzwischen überall jene in der Mehrheit, die den EU-Austritt für einen Fehler halten. Dazu gehören angrenzende Wahlkreise in Lincolnshire, traditionell konservative Hochburgen, ebenso wie armselige, stets Labour-treue Bezirke in den Metropolen London und Birmingham, wo immerhin 60 Prozent den Brexit wollten. Anders als beim Referendum oder der Unterhauswahl 2019 würden zunehmend das Brexit-Votum und die Links-Rechts-Ausrichtung der Briten wieder zusammenpassen, analysiert James Kanagasooriam von Focaldata: „Das Austrittsvotum verblasst und unterscheidet sich weniger von der konservativen Wählerschaft.“

Das ist, pünktlich zum dritten Jahrestag des EU-Austritts, keine gute Nachricht für die Tory-Regierung des Brexiteers Rishi Sunak, dem fünften konservativen Premierminister seit jenem Junitag, der Großbritanniens Innen- und Außenpolitik stark verändert hat. Denn die Torys liegen in den Umfragen regelmäßig um 20 Punkte hinter der Labour-Opposition unter Keir Starmer. Alle Beteuerungen des Regierungschefs und seiner zerstrittenen Partei, der Brexit werde herrlichen Fortschritt in vernachlässigte Regionen bringen, wirken angesichts der Realität immer unglaubwürdiger. Vielmehr treten immer klarer die Nachteile des Isolationsschrittes zu Tage.

Viel weniger Studenten aus EU-Ländern

Erst am vergangenen Wochenende erschreckte die Hochschul-Behörde HESA den Milliarden-schweren Unisektor mit neuen Hiobsbotschaften. Seit dem endgültigen Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion Ende 2020 ist die Zahl der Studierenden aus der EU um mehr als die Hälfte zurückgegangen. Konnten junge Deutsche, Italienerinnen oder Balten zuvor zum ohnehin hohen Preis von 9.250 Pfund (10.515 Euro) pro Jahr auf der Insel studieren, müssen sie jetzt für denselben Bachelor-Abschluss in Bristol, Nottingham oder Cambridge bis zu 38.000 Pfund (43.190 Euro) berappen. Viel zu viel, finden die meisten.

Den Unis kann das nicht recht sein, werden sie dadurch doch umso abhängiger von Studierenden aus Asien. Dabei soll, nicht zuletzt unter dem Druck der Regierung, der hohe Anteil von Studierenden aus der kommunistischen Diktatur China in den kommenden Jahren merklich reduziert werden.

Auch anderswo macht sich der Brexit finanziell schmerzhaft bemerkbar. Die unabhängige Budgetbehörde OBR spricht von einem Wachstumsverlust von vier Prozent, nicht zuletzt durch den „erheblichen Dämpfer“ für den britischen Außenhandel. Allein Exporte in die EU sind zuletzt um 15 Prozent zurückgegangen. Zur Unsicherheit von Industrie und Handel tragen die anhaltenden Streitigkeiten um den Sonderstatus von Nordirland bei.

Dort ringen britische und EU-Unterhändler um die Ausgestaltung des sogenannten Nordirland-Protokolls, das Teil des Austrittsvertrages war. Es soll die Landgrenze zur Republik im Süden offenhalten, wie von der katholisch-nationalistischen Bevölkerung gefordert, aber gleichzeitig die Integrität des Binnenmarktes gewährleisten. Deshalb wurden zwischen Nordirland und der britischen Hauptinsel Zoll- und Einfuhrkontrollen fällig, was die königstreu-protestantischen Unionisten verärgert.

Streit mit Brüssel über Nordirland

Deren führende Partei DUP unter Jeffrey Donaldson spricht sogar davon, das Protokoll müsse gänzlich neu formuliert werden. Kommt nicht in Frage, heißt es dazu aus Brüssel. Druck auf alle Seiten macht von der anderen Seite des Atlantiks der irisch-stämmige US-Präsident Joe Biden: Zu gern würde der 80-Jährige zum Jahrestag des nicht zuletzt durch amerikanisches Verhandlungsgeschick zustande gekommenen Friedensvertrages im April die grüne Insel besuchen, das gibt immer herrliche Bilder für den nächsten Wahlkampf.

Als Hindernis für eine Einigung dürfte sich vor allem die Frage erweisen, inwieweit der Europäische Gerichtshof EuGH in etwaigen Streitfragen zwischen den Vertragsparteien als Schiedsrichter fungieren soll. Das lehnen Donaldson und die Tory-Hardliner bisher strikt ab. Nun sind die Diplomaten beider Seiten gefragt.

Immerhin sprechen manche Signale aus London für eine vorsichtige Wiederannäherung an den größten Binnenmarkt der Welt. Ebenso redet Oppositionsführer Starmer einem pragmatischeren Vorgehen gegenüber Brüssel die Rede, wie es sich auch das Wahlvolk mehrheitlich zu wünschen scheint. Bestärkt werden sie von vielen Prominenten, Hermann Hauser zum Beispiel. Wie viele andere Wissenschaftler hadert auch der in Wien geborene Physiker und Unternehmer mit dem Brexit seiner Wahlheimat. „Früher oder später“, hat der 74-Jährige kürzlich der BBC erläutert, werde das Königreich „wieder engere Beziehungen zur EU haben“.

Lucilinburhuc
31. Januar 2023 - 13.00

Ergo, Demokratie bei Britten funzt nicht mehr ? Falls doch mittlerweile eine Mehrheit gegen Brexit ist, wieso findet man dieser Wille dann nicht in der Politik wieder? Neue Partei gefällig ?

J.Ripper
31. Januar 2023 - 8.18

Konservativismus ist schädlich.