NobelpreisSchriftstellerin Annie Ernaux beschreibt ihr Leben als Spiegel der Gesellschaft

Nobelpreis / Schriftstellerin Annie Ernaux beschreibt ihr Leben als Spiegel der Gesellschaft
Das Schaffen der Autorin Annie Ernaux wird in diesem Jahr mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet Foto: AFP

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Sie erzählt ihr Leben, schnörkellos. Und dabei erzählt sie das Leben einer ganzen Generation, eines ganzen Landes. Die Französin Annie Ernaux, die in diesem Jahr mit dem Literaturnobelpreis geehrt wird, hat in gewisser Weise die Gattung der Autobiografie neu erfunden.

„Es ist weder eine Lebensgeschichte noch ein Roman, vielleicht etwas zwischen Literatur, Soziologie und Geschichte“, schrieb sie über ihr Buch „Eine Frau“ – ein Requiem für ihre Mutter, die an Alzheimer litt. Diese Beschreibung gilt auch für viele anderer von Ernaux’ Romanen, die aus ihrer eigenen Erfahrung schöpfen, ohne sich dabei in einer Nabelschau zu verlieren. Das Buch über den Tod ihrer Mutter ist nicht einmal 100 Seiten lang – aber es ist besonders bedeutsam, weil das Verhältnis zu ihrer Mutter Ernaux’ ganzes Leben geprägt hat.

Annie Ernaux wuchs in einfachen Verhältnissen auf, ihre Eltern hatten ein kleines Café mit angeschlossenem Laden in einem verlorenen Ort in der Normandie. „Dreckig, heruntergekommen und hässlich“, so beschreibt sie ihre damaligen Lebensumstände. Ihre Mutter, die selber im Alter von zwölf Jahren die Schule verlassen hatte, war es, die sie auf eine Privatschule schickte.

Erst dort wurde Ernaux sich ihrer Herkunft, ihrer Andersheit bewusst. Sie blickte voller Neid auf die Mütter der anderen Kinder aus besseren Verhältnissen: „Sie waren schlank, diskret, konnten kochen und nannten ihre Töchter ,Liebling‘“, erinnert sie sich. „Ich fand meine Mutter derb. (…) Ich schämte mich für ihre Art zu sprechen und sich zu benehmen, zumal ich spürte, wie sehr ich ihr ähnelte.“

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu beschrieb das Dilemma von Kindern aus einfachen Verhältnissen, deren Eltern sich für sie etwas Besseres wünschen: Entweder verraten sie die Träume ihrer Eltern – oder sie verwirklichen diese Träume und verraten damit ihre Herkunft. Ernaux gelang durch ihr Studium und ihre Heirat der Aufstieg in ein bürgerliches Milieu – wo sie sich aber wie ein „Klassenflüchtling“ fühlte und Schuldgefühle entwickelte. „Ich hasste mich selbst, weil ich nicht mehr nett zu ihnen war“, schrieb sie über ihre Eltern.

Geschichten aus dem eigenen Leben

Erst später wandelte sich ihr Blick auf ihre Mutter und wurde verständnisvoller. „Ich werde ihre Stimme nicht mehr hören. Ihre Worte, ihre Hände, ihre Gesten, ihre Art zu lachen und zu gehen, binden die Frau, die ich bin, an das Kind, das ich war. Ich habe die letzte Bindung mit der Welt verloren, aus der ich hervorgegangen bin“, so endet die Erzählung vom Tod ihrer Mutter.

Schon lange vor der „#MeToo“-Bewegung beschrieb Ernaux auch den schmalen Grat zwischen Leidenschaft und Gewalt – angefangen beim ersten Geschlechtsverkehr, der ein enttäuschendes Erlebnis blieb. Ernaux schrieb über ihre illegale Abtreibung Anfang der 60er Jahre, über ihre gescheiterte Ehe, ihren Brustkrebs und die Pariser Vorstadt Cergy-Pontoise, in der sie sich als junge Lehrerin niedergelassen hatte.

Sie selber bezeichnet ihren Schreibstil als „écriture plate“, womit ein bewusster Verzicht auf eine ornamentale Sprache gemeint ist. Der Blick auf das eigene Leben als Spiegel der Gesellschaft prägt ihr literarisches Werk. Nachdem zwei ihrer Bücher erfolgreich verfilmt wurden, machte sie sich gemeinsam mit ihrem Sohn David Ernaux-Briot an ein eigenes Filmprojekt: Beim diesjährigen Filmfestival in Cannes stellte sie einen autobiografischen Dokumentarfilm vor, für den sie Aufnahmen aus den 70er Jahren aus ihrem Familienleben zusammengeschnitten hatte.

Als eine „Ethnologin ihrer selbst“ und „Hüterin des kollektiven Gedächtnisses“ wurde sie schon bezeichnet. Wenn sie am 10. Dezember in Stockholm den Literaturnobelpreis entgegennimmt, wird Annie Ernaux womöglich durch den Kopf gehen, was dies ihrer Mutter bedeutet hätte. (AFP)