Filmfestival in San SebastiánLuxemburgische Koproduktion räumt mit „Los reyes del mundo“ ab

Filmfestival in San Sebastián / Luxemburgische Koproduktion räumt mit „Los reyes del mundo“ ab
Die luxemburgische Koproduktion „Los reyes del mundo“ (Iris Productions) ergatterte die „Concha de Oro“ für den besten Film des diesjährigen Festivals (C) Iris Productions

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Bei den 70. Filmfestspielen im baskischen San Sebastián gab es eine umstrittene Weltpremiere, sehr viel Sex und eine luxemburgische Koproduktion, die abräumte.

Same problem as every year … Auch die Jubiläumsausgabe des Filmfestivals in San Sebastián hatte wieder mit der leidigen Tatsache zu kämpfen, dass man als letztes der fünf großen europäischen Filmfeste im Kalenderjahr nur das abkriegt, was Ende September übrigbleibt. Premieren sind dann nur noch rar gesät, und das ist schließlich Grundvoraussetzung dafür, dass die Beiträge um den Hauptpreis „Concha de Oro“ konkurrieren können.

So mussten die nordspanischen Teenies auch verschmerzen, dass die derzeit angesagtesten Herzbuben Timothée Chalamet und Harry Styles der nur ein paar Tage vorher stattfindenden Mostra di Venezia den Vorzug gegeben hatten. Als kleiner Trost ging wenigstens Styles’ schauspielerisches Debüt in „Don’t Worry Darling“ von Olivia Wilde ins Rennen um den Publikumspreis. Mehr ist zu dem Streifen, einer kruden Mischung aus Tim Burton, David Lynch und „Akte X“, mit irgendwie feministischer Botschaft hintendran, auch kaum zu sagen. Aber Harry ist ja noch jung, und immerhin, die Sexszenen waren schon ganz ordentlich.

Eine unerwartete Weltpremiere

Tja, und dann flatterte den Basken wider Erwarten doch noch eine echte Weltpremiere ins Haus. Nachdem das Filmfestival in Toronto die Uraufführung von „Sparta“, dem neuen Film des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl, abgesagt hatte, entschied sich Direktor José Luis Rebordinos dennoch für die Beibehaltung des umstrittenen Werks im Festival-Programm.

Die Hintergründe dürften mittlerweile hinlänglich bekannt sein: Seidl wird u.a. vorgeworfen, dass die in seinem Film mitwirkenden Kinder sowie deren Eltern nicht über dessen Thema – Pädophilie – aufgeklärt worden seien und dass man sie unvorbereitet mit Gewalt, Alkohol und ähnlichem konfrontiert habe. Was auch immer an den erstmals vom Spiegel erhobenen Vorwürfen dran sein mag, es ist nicht an der Kritikerin, darüber zu urteilen. Seidl jedenfalls zog es vor, dem Festival fernzubleiben, damit „sein Film für sich selbst spreche“.

Ob das eine kluge Entscheidung war, sei dahingestellt. Aber in der Tat sprach „Sparta“ für sich selbst. Und das überzeugend. Seidl geht das eigentlich abstoßende Thema mit großer Subtilität an. Dem Film über einen Pädophilen, der in Rumänien eine Judoschule für Jungs aufmacht – wohl mit den entsprechenden Hintergedanken, aber ohne den in ihm schlummernden Abgründen je nachzugeben –, gelingt es, zu keinem Augenblick ins Übergriffige, Voyeuristische abzugleiten.

Zwar schaut man fast jede Minute auf die Uhr und hofft, dass der Streifen endlich vorbei ist, bevor doch noch das Entsetzliche passiert. Was es dann aber zum Glück nicht tut – auch wenn es natürlich ständig latent im Raum steht. Zu diesem leisen Grauen gesellt sich allerdings zunehmend der Eindruck – und das ist das Doppelbödige und womöglich noch Verstörendere an „Sparta“ –, dass die Kinder sich bei ihrem potenziellen Schänder sicherer und geborgener fühlen als im eigenen, von Suff, Brutalität und Vernachlässigung geprägten Elternhaus. Die Welt ist eben nicht schwarz oder weiß …

Kontrovers: „Sparta“, der neue Film von Ulrich Seidl, sorgte bereits während seines Drehs für Polemik
Kontrovers: „Sparta“, der neue Film von Ulrich Seidl, sorgte bereits während seines Drehs für Polemik (C) Ulrich Seidl Filmproduktion

(Alb-)Traumhaus auf dem Land

Diese Erfahrung dürfen auch Helena und Ivan machen, ein nettes junges Paar aus Barcelona, das von der Tante eine Korkfarm geerbt hat und beschließt, aufs Land zu ziehen. Weil sie etwas knapp bei Kasse sind und die doch ziemlich runtergekommene Bude der verstorbenen Verwandten zu einer schicken Designer-Bleibe aufhübschen möchten, entschließen sie sich, für die Korkernte statt der lokalen Arbeiter einen Dumping-Anbieter anzuheuern – der, wie nicht anders zu erwarten, weder mit ganz legalen Methoden noch mit ganz legalen Arbeitskräften ans Werk geht.

Die Konfrontation mit den unter den typisch miserablen Bedingungen eingesetzten Marokkanern, die Auseinandersetzung mit der moralischen und juristischen Dimension dieser Entdeckung und ein paar unglücklich aufeinanderfolgende Ereignisse führen dazu, dass das Traumhaus am Ende zwar fertig, die Beziehung jedoch zerrüttet ist, nachdem die charakterlichen Defizite sämtlicher Beteiligter – ob Arbeiter oder Arbeitgeber, ob ausgebeuteter Ausländer oder alteingesessener Einheimischer – ihre hässlichen Fratzen gezeigt haben.

Der einzig wirklich Gute in „Suro“ (Katalanisch für Kork) ist der Esel, aber der muss dann auch dran glauben. Ein kluger, böser, vielschichtiger Film, der zu Recht mit dem Preis des baskischen Kinos (Regisseur Mikel Gurrea stammt aus San Sebastián, auch wenn sein Film in Katalonien spielt und auf Katalanisch gedreht wurde) sowie dem Kritikerpreis Fipresci ausgezeichnet wurde. Schade und ein wenig unverständlich, dass „Suro“ bei den Hauptpreisen dann leer ausging.

Was Sie (vermutlich) noch nie über Sex wissen wollten …

Für, nun, formulieren wir es mal so: gelinde gesagt eine gewisse Irritation sorgte indes der Wettbewerbsbeitrag „Pornomelancolía“ von Manuel Abramovich. Knapp hundert Minuten lang lässt der argentinische Regisseur die Zuschauer am Arbeitsalltag des mexikanischen Gayporno-Darstellers und „Sex-Influencers“ Lalo Santos teilhaben. Da, der Natur der Sache gemäß, mehr gestöhnt als gesprochen wird, gelingt es dem „Dokumentarfilm“ in keinster Weise, die behauptete Schwermut, von der der Protagonist angeblich befallen ist, sichtbar zu machen. Wenigstens blieb dem Publikum ebenso die Sichtbarwerdung jener Detail-Großaufnahmen erspart, die zu einem „richtigen“ Porno noch gefehlt hätten. Ob die Jury „Pornomelancolía“ aus Dankbarkeit für diesen Umstand mit der ansonsten kaum nachvollziehbaren „Concha“ für die beste Kamera auszeichnete?

Auch anderswo wurde tüchtig geknattert. Im filmisch vernachlässigungswürdigen „Amadeus“-Abklatsch „Il Boemo“, einer tschechisch-italienischen Koproduktion, ebenso wie im chinesischen Wettbewerbsbeitrag „A Woman“, in dem die glücklose Protagonistin gleich zweimal einen Missgriff in Sachen Ehepartner tut und unablässig grunzende Gatten über sich rutschen lassen muss. Das war der Jury dann den Drehbuch-Preis wert. Aber die Chinesen wissen schon lange, wie der Hase läuft: Ein bisschen Kulturrevolution mit in den Streifen packen, dann klappt’s auch mit der „Concha“.

Bei so viel wenig vergnüglich anzusehendem Beischlaf fürchtete man im Vorfeld des spanischen Beitrags „La consegración de la primavera“ schon das Schlimmste, behandelt der Film doch das gern tabuisierte Thema Sexualassistenz. Aber die behutsame, humorvolle und völlig unverkrampfte Art, mit der Regisseur Fernando Franco und seine beiden Hauptdarsteller Valèria Sorolla und Telmo Irureta das sperrige Sujet umsetzten, ließ den Vorgang der Sexualassistenz dermaßen selbstverständlich und alltäglich wirken, dass noch der nervöseste Kinozuschauer irgendwann fast vergessen hatte, um was für eine Variante sexueller Befriedigung es eigentlich ging.

Und die Luxemburger?

Während Vicky Krieps sich samt ihrer wunderbaren Sisi-Performance in „Corsage“ (Frage: Ist der Vileda-Putzeimer auf dem Flur ein Goof oder steht der extra da?) im Rennen um den Publikumspreis dem überragenden „Argentina, 1985“ mit einem wie immer überragenden Ricardo Darín geschlagen geben musste, räumte die luxemburgische Koproduktion „Los reyes del mundo“ über ein paar Straßenjungs in Kolumbien, die ein enteignetes Stück Land zurückerobern wollen, richtig ab.

Nachdem der Film bereits am Nachmittag den Premio Feroz und den Premio Signis eingeheimst hatte, gab’s am Ende des Abends noch einen obendrauf: die „Concha de Oro“ für den besten Film des diesjährigen Festivals. Ein bisschen weniger Symbolismus und ein bisschen mehr Stringenz im Drehbuch des von Iris Productions mitproduzierten Streifens wären vielleicht nicht schlecht gewesen. Trotzdem geht die „Goldene Muschel“ für „Los reyes del mundo“ absolut in Ordnung.

Die diesjährigen Preisträger

– Bester Film: „Los reyes del mundo“ (Regie: Laura Mora, Kolumbien/Luxemburg/Frankreich/Mexiko/Norwegen)
– Spezialpreis der Jury: „Runner“ (Regie: Marian Mathias, U.S.A./Deutschland/Frankreich)
– Beste Regie: Genki Kawamura („Hyakka/A Hundred Flowers“, Japan)
– Beste Darstellung (ex aequo): Paul Kirchner („Le Lycéen“, Frankreich); Carla Quílez („La Maternal“, Spanien)
– Beste Nebendarstellung: Renata Lerman („El Suplente“, Argentinien/Spanien/Italien/Mexiko/Frankreich)
– Beste Kamera: Manuel Abramovich („Pornomelancolía“, Argentinien/Frankreich/Brasilien/Mexiko)
– Bestes Drehbuch: Dong Yun Zhou u. Wang Chao („Kong Xiu/A Woman“, China)