FilmEs war einmal eine Stiefmama: „Les enfants des autres“ von Rebecca Zlotowski

Film / Es war einmal eine Stiefmama: „Les enfants des autres“ von Rebecca Zlotowski
Virginie Efira spielt die Figur der Rachel mit viel Empathie und Tiefe – dass der Film es dennoch nicht geschafft hat, im Wettbewerb in Cannes zu laufen, sagt mehr über die Auswahl in Cannes als über die Qualität des Films aus (C) Les films Velvet

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Wenn man einen Film von Rebecca Zlotowski nicht erwartet hätte, dann eine romantische Komödie à la française. Ihr neues Werk „Les enfants des autres“ gibt sich auf alle Fälle Mühe, zu Beginn wenigstens, diesen Anschein zu geben.

Wir begegnen die von Virginie Efira gespielte Rachel. Mitten im Leben und immer in Bewegung. Sie ist Gymnasiallehrerin, eine tolle sogar, die ihren Schülern im Unterricht Filme zeigt. Wie so oft ist in genau dieser Szene gleich zu Beginn ein nicht ganz so subtiler Schlüssel zum Film(ende) versteckt. Das Ende eines alten Streifens, allem Anschein nach eine romantische Romanverfilmung, wird abrupt von der Schulklingel und dem Unterrichtsende unterbrochen. Allgemeines Seufzen. Die Mehrheit der Schüler scheint gebannt dem alten Schinken gefolgt zu haben. Wie der Film denn enden würde? „Ihr habt doch das Buch gelesen“, wirft Rachel neckisch in die Runde. „Was glaubt ihr denn? Schlecht natürlich.“ Oh, die Vorahnung.

Zwischen Tür und Angel des Gymnasiums den Kollegen noch zu einem geplanten Umtrunk zugesagt und mit dem Pförtner ein nettes Wort ausgetauscht, ist Rachel schon wieder hurtig unterwegs. Nach nur wenigen Augenblicken sitzt sie schon im Gitarrenunterricht. Unter anderem mit Ali (Roschdy Zem).

Und dann fällt der Groschen, wieso Rachel so fröhlich durch den Tag geht. Sie ist verliebt. In Ali. Die beiden flanieren nach dem Unterricht händchenhaltend durch die Pariser Straßen. Zlotowski erspart uns nicht einmal den Eiffelturm im Hintergrund, der abends alles andere als die Energiesparmaßnahmen berücksichtigt und aufleuchtet wie ein Christbaum. Oui, on l’a compris. Rachel ist überglücklich. Dass Ali eine kleine Tochter hat, scheint sie nicht wirklich aus der Bahn zu werfen. Die beiden sind eben keine zwanzig mehr. Mit beiden Füßen im Leben konfrontiert sie ihren potenziellen Lebenspartner damit. Sie möchte die vierjährige Leila kennenlernen.

Dass sich die französische Regisseurin Zlotowski in eine Rom-Com wagt, ist gleich weniger verwunderlich, wirft man einen Blick in ihren kinematografischen Lebenslauf. Ihre Filme könnten unterschiedlicher nicht sein. So inszenierte sie 2019 „Une fille facile“, dem das sommerliche Kino Eric Rohmers zur Seite stand, oder die für Canal+ produzierte Serie „Les Sauvages“, ein serieller Politthriller.

Jahresbestenmaterial

Zlotowski hebelt die klassische Autorentheorie aus ihren Fugen und schleicht sozusagen zwischen den Stühlen, genau wie Rachel. Und nein, so wirklich hat Zlotowski auch keine romantische Komödie aus dem Ärmel gezaubert. Die Empfindsamkeit, die die Regisseurin hier aber an den Tag legt, ist neu. Ganz nebenher gesagt: Dass dieser Film und „Un beau matin“ von Mia Hansen-Løve keine Wettbewerbsslots in Cannes ergattert haben – Arnaud Desplechins letzte Grütze erhielt ihn aber, während Zlotowskis Spielfilm jetzt kürzlich erst in Venedig Premiere feierte und Hansen-Løve nach „Bergman Island“ in die „Quinzaine des réalisateurs“ abgeschoben wurde –, ist höchst bedenklich. Beide Regisseurinnen lauern mit Filmen auf, die man ziemlich sicher auf Jahresbestenlisten wiederfinden wird.

„Les enfants des autres“ stellt in seiner luftig-leichten Manier – irgendwo zwischen Komödie und Drama – eine Figur in den Vordergrund, die bisweilen in den Hintergrund oder in eine Antagonisten-Position gestellt wurde: die Stiefmutter. Über Schwiegermütter werden Witze erzählt, dagegen kommt die Stiefmutter, Disney sei Dank, seit jeher als böse Hexe daher.

Mit der aktuellen Allzweckwaffe des französischsprachigen Kinos, Virginie Efira, zeichnet die Regisseurin ein nüchternes, wenn auch mit sehr viel Empathie aufgepolstertes Bild dieser Frauenfigur. Nimmt die von den Narrativen zerbeulte Stiefmütter an der Hand und versucht sie ins rechte Licht zu rücken.

Virginie Efira kann man gerade auch in Alice Winocours „Revoir Paris“ im Saal nebenan sehen – auch ein Quinzaine-Film in Cannes dieses Jahr –, aber der gebürtigen Belgierin steht es sehr gut zu Gesicht, wenn sie nicht einen französischen Katharsismoment auf den Schultern tragen muss. „Les enfants des autres“ ist ein Film des Zwischen-den-Stühlen-Stehen einer Frau, die versucht, das Konstrukt einer Familieneinheit aufzubauen, wohl wissend, dass sie die Zügel dieses Gerüstes nie in den Händen halten wird. Eine 40-jährige Frau außerdem, die den eigenen Kinderwunsch noch nicht aufgegeben hat. Übrigens: Der Großmeister des Dokumentarfilms Frederick Wiseman ist mit über 90 noch für Überraschungen zu haben und schlüpft für zwei Szenen in die Rolle des Gynäkologen von Rachel. Ein cinephiler Schmankerl.

Die titelgebenden Kinder der anderen spielen eine Schlüsselrolle, die Zlotowski zu keinem Augenblick zu unberechenbaren Tyrannenfiguren verkommen lässt. Die Regisseurin nimmt alle Elemente/Personen dieser Patchwork-Familie gleichermaßen ernst und fängt die Freuden und Ängste aller gleich liebevoll ein. Sogar wenn Chiara Mastroianni als Mutter der kleinen Leila Rachel gegenübersteht, fällt der Film nicht in die Falle, die das französische Kino seinen Machern stellt. Die alternden Boomer-Kino-Wurstfinger von Desplechin hätten unsäglich laut schreiende Momente mit sich gebracht. Ja, „Frère et sœur“ hat seine Spuren hinterlassen.

Die needle drops, mit denen Zlotowski ihren Film schmückt – allesamt Herzschmelz-Momente mit u.a. Julien Clerc, Yves Simon und Georges Moustaki (Zlotowskis Film endet sogar mit Moustakis französischem Cover von Antônio Carlos Jobims „Águas de março“, genau wie es Joachim Trier in „The Worst Person in the World“ gemacht hat, nur legte er Paul Simons Version auf) –, unterstreichen, dass das französische Melodrama mit Zlotowski und Hansen-Løve an der Spitze noch lange nicht gestorben ist. Und das ist auch gut so.