ForumWie der Westen sein Geld vergiftet hat

Forum / Wie der Westen sein Geld vergiftet hat
 Foto: AFP/Kenzo Tribouillard

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Der Kapitalismus eroberte die Welt, indem er fast alles, was einen Wert, aber keinen Preis hatte, kommerzialisierte und trieb auf diese Weise einen scharfen Keil zwischen Werte und Preise. Dasselbe hat er mit dem Geld gemacht. Im Tauschwert des Geldes spiegelte sich von jeher die Bereitschaft der Menschen wider, wertvolle Dinge für bestimmte Geldbeträge abzugeben. Doch im Kapitalismus ‒ und nachdem das Christentum die Vorstellung akzeptiert hatte, für Kredite Gebühren zu erheben ‒ erhielt das Geld zudem einen Marktpreis: den Zinssatz oder den Preis für das Überlassen eines Batzen Geldes für einen bestimmten Zeitraum.

* Zum Autor

Yanis Varoufakis, ehemaliger griechischer Finanzminister, ist Vorsitzender der Partei MeRA25 und Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Athen.

Nach der weltweiten Finanzkrise 2008 und vor allem während der Pandemie geschah etwas Seltsames: Das Geld behielt seinen Tauschwert (der sich durch Inflation verringert), aber sein Preis stürzte ab und kehrte sich in vielen Fällen ins Negative. Politiker und Zentralbanker hatten „das entäußerte Vermögen der Menschheit“ (Karl Marx’ poetische Definition von Geld) unbeabsichtigt vergiftet. Das Gift, das sie verabreichten, war die Politik nach 2008 in Europa und den Vereinigten Staaten, die auf harte Sparmaßnahmen für die meisten setzte, um Sozialismus für einige wenige zu finanzieren.

Infolge des harten Sparkurses verringerten sich die öffentlichen Ausgaben genau zu dem Zeitpunkt, als die privaten Ausgaben drastisch sanken und ließen die Summe aus privaten und öffentlichen Ausgaben schnell kleiner werden – was per Definition das Volkseinkommen ist. Im Kapitalismus ist nur Big Business in der Lage, erhebliche Summen des Geldes zu leihen, das Kreditgeber, meist reiche Leute mit großen Ersparnissen, bereit sind zu verleihen. Aus diesem Grund ist der Preis des Geldes nach 2008 abgestürzt: Die Nachfrage nach Geld trocknete aus, da Big Business auf die katastrophalen Auswirkungen der Sparmaßnahmen auf die Nachfrage mit der Streichung von Investitionen reagierte, während das Geldangebot (für Big Business) wuchs.

Wie bei einem Vorrat an Kartoffeln, den niemand zum aktuellen Preis kaufen will, sinkt der Preis des Geldes – der Zinssatz –, wenn die Nachfrage nach Geld unter der Menge liegt, die für die Kreditvergabe zur Verfügung steht. Doch nun zum entscheidenden Unterschied: Während ein rasch fallender Kartoffelpreis das Problem eines Überangebots schnell behebt, geschieht das Gegenteil, wenn der Geldpreis schnell fällt. Anstatt sich darüber zu freuen, dass sie sich nun billiger Geld leihen können, denken Anleger: „Die Zentralbank muss die Lage für düster halten, wenn sie die Zinssätze so stark sinken lässt. Ich werde nicht investieren, selbst wenn sie mir kostenlos Geld geben!“ Selbst nachdem die Zentralbanker den offiziellen Preis des Geldes stark gesenkt hatten, erholten sich die Investitionen nicht – und der Preis des Geldes fiel weiter, bis er in den negativen Bereich rutschte.

Die Situation war seltsam. Negative Preise ergeben Sinn für Übles, nicht für Waren. Wenn eine Fabrik giftige Abfälle beseitigen will, erhebt sie dafür einen negativen Preis: Ihre Manager bezahlen jemanden dafür, die Abfälle loszuwerden. Aber wenn Zentralbanken anfangen, Geld so zu behandeln, wie Autohersteller ihre verbrauchte Schwefelsäure oder Atomkraftwerke ihre radioaktiven Abwässer, dann weiß man, dass etwas faul ist im Reich des Finanzmarktkapitalismus.

Eine andere Inflation

Einige Kommentatoren hoffen nun, dass das Geld des Westens in den Flammen der Inflation und der Zinserhöhungen geläutert wird. Doch die Inflation treibt das Gift nicht aus dem westlichen Geldsystem. Nach mehr als einem Jahrzehnt der Abhängigkeit von vergiftetem Geld gibt es keine offensichtliche Entgiftungsmethode. Die Inflation heute ist nicht dieselbe, mit der der Westen in den 1970er und frühen 1980er Jahren konfrontiert war. Dieses Mal bedroht sie Arbeit, Kapital und Regierungen auf eine Art und Weise, wie sie es vor 50 Jahren nicht konnte. Damals waren Arbeitskräfte ausreichend organisiert, um Lohnerhöhungen zu fordern, die eine Krise in Bezug auf die Lebenshaltungskosten verhinderten, und weder Staaten noch private Unternehmen waren auf kostenloses Geld angewiesen, um ihr Überleben zu sichern. Heute gibt es keinen optimalen Zinssatz, der das Gleichgewicht zwischen Geldnachfrage und Geldangebot wiederherstellt, ohne dass es zu einer massiven Welle von privaten und öffentlichen Insolvenzen kommt. Das ist der langfristige Preis des vergifteten Geldes.

Die US-Regierung steht vor dem unmöglichen Dilemma, die Inflation im eigenen Land eindämmen zu müssen und amerikanische Unternehmen und viele befreundete Regierungen in eine Solvenzkrise zu zwingen, die Amerikas eigene Stabilität bedrohen wird. Weitaus schlimmer sieht es in der Eurozone aus, wo sich die politischen Entscheidungsträger weigerten, das Offensichtliche zu tun, nachdem Europas Banken nach 2008 zusammengebrochen waren: die Grundlage für eine richtige Föderation zu schaffen – eine Fiskalunion. Stattdessen ließen sie die Europäische Zentralbank „alles tun, was nötig ist“, um den Euro zu retten. Nur indem sie ihr eigenes Geld vergiftete, konnte die EZB die Euro-Show am Laufen halten. Heute besitzt die EZB riesige Mengen italienischer, spanischer, französischer und sogar griechischer Schulden, die sie nicht mehr als Mittel rechtfertigen kann, um ihr Inflationsziel zu erreichen, auf die sie aber nicht verzichten kann, ohne die Existenz des Euro in Frage zu stellen.

Während wir über die unlösbare Frage nachdenken, vor der Europa und Amerika stehen, ist dies vielleicht ein guter Moment, um über den tieferen Grund nachzudenken, warum Geld vergiftet werden kann (was nicht dasselbe ist, wie durch Inflation an Wert gemindert zu werden). Ein guter Anfang ist es, Albert Einsteins Idee aufzugreifen, dass wir Licht nur verstehen können, wenn wir akzeptieren, dass es zwei verschiedene Verhaltensweisen aufweist: die von Teilchen und die von Wellen.

Auch Geld hat zwei Wesensarten. Seine erste Wesensart, die eines Gutes, das wir mit anderen Gütern tauschen, kann nicht erklären, warum Geld jemals einen negativen Preis haben könnte. Seine zweite Wesensart hingegen schon: Wie eine Sprache ist auch Geld ein Spiegelbild unserer Beziehung zueinander und zu unseren Technologien. Es spiegelt wider, wie wir Materie umwandeln und die Welt um uns herum gestalten. Es quantifiziert unser „entäußertes Vermögen“, Dinge gemeinsam, als Kollektiv, zu tun. Sobald wir die zweite Wesensart des Geldes erkennen, ergibt alles viel mehr Sinn.

Sozialismus für Banker und Sparmaßnahmen für die meisten anderen haben die Dynamik des Kapitalismus ausgebremst und ihn in einen Zustand der goldenen Stagnation gestürzt. Vergiftetes Geld floss in Strömen, aber nicht in ernsthafte Investitionen, gute Arbeitsplätze oder irgendetwas, das die verlorenen Lebensgeister des Kapitalismus wiederbeleben könnte. Und jetzt, da das Gespenst der Inflation über uns schwebt, kann keine Geldpolitik das Geld läutern, das Gleichgewicht wiederherstellen oder Investitionen dorthin lenken, wo die Menschheit sie braucht.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow / © Project Syndicate, 2022