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Der Gouverneursrat der US-Notenbank Federal Reserve wird am 20. und 21. September erneut zusammentreten. Obwohl die meisten Analysten eine weitere kräftige Zinserhöhung erwarten, spricht vieles dafür, dass die Fed hinsichtlich ihrer aggressiven geldpolitischen Straffung eine Pause einlegen sollte. Die bisherigen Zinserhöhungen haben die Wirtschaft eingebremst – am deutlichsten auf dem Immobiliensektor – doch die Auswirkungen der Zinsanhebungen auf die Inflation sind weit weniger gewiss.

In der Regel wirken sich geldpolitische Maßnahmen mit langen und unterschiedlichen Verzögerungen auf die Wirtschaftsleistung aus, insbesondere in Zeiten des Umbruchs. Angesichts des Ausmaßes an geopolitischer, finanzieller und wirtschaftlicher Ungewissheit – nicht zuletzt im Hinblick auf die zukünftige Inflationsentwicklung – wäre die Fed gut beraten, ihre Zinserhöhungen auszusetzen und zu warten, bis eine zuverlässigere Einschätzung der Situation möglich ist.

Für einen derartigen Aufschub sprechen mehrere Gründe. Der erste lautet schlicht, dass die Inflation drastisch zurückgegangen ist. Die Inflation des Verbraucherpreisindex (VPI) – die für die Haushalte wichtigste Messgröße – lag im Juli bei null und war wohl auch im August null oder sogar negativ. Auch der Preisdeflator für persönliche Verbrauchsausgaben (PCE) – ein weiteres häufig verwendetes Maß auf Grundlage von BIP-Rechnungen – fiel im Juli um 0,1 Prozent.

Normalisierung der Umstände

Einige mögen versucht sein, diesen offensichtlichen Sieg über die Inflation der straffen Geldpolitik zuzuschreiben. Dabei handelt es sich allerdings um einen Fehlschluss nach dem Motto post hoc ergo propter hoc (dass also A die Ursache für B sein muss, weil A vor B geschah), der auch Korrelation mit Kausalität verwechselt. Außerdem haben die meisten der wichtigsten Gründe für die heutige Inflation wenig mit der Dämpfung der Nachfrage zu tun. Einschränkungen auf der Angebotsseite haben die Inflation in die Höhe getrieben, und nun sorgen angebotsseitige Faktoren dafür, dass die Inflation wieder zurückgeht.

Zahlreiche Ökonomen (darunter auch einige von der Fed) hatten erwartet, dass die angebotsseitigen Unterbrechungen durch den russischen Krieg in der Ukraine und die Pandemie sehr rasch überwunden werden würden. Letztlich lagen sie falsch, allerdings nur hinsichtlich des Tempos, zu dem eine Normalisierung der Umstände eintreten würde. Großteils waren diese Fehleinschätzungen verständlich. Wer hätte schon gedacht, dass es Amerikas legendärer Marktwirtschaft derart an Widerstandskraft fehlen würde? Wer hätte vorhersehen können, dass es zu kritischen Engpässen bei Babynahrung, Damenhygieneartikeln und den in der Autoproduktion notwendigen Komponenten kommt? Sprechen wir hier von den Vereinigten Staaten oder von der Sowjetunion in ihren letzten Tagen?

Bevor der russische Präsident Wladimir Putin im letzten Jahr mit einem massiven Truppenaufmarsch an den Grenzen zur Ukraine begann, konnte außerdem niemand voraussehen, dass es in Europa zu einem größeren Landkrieg kommt. Und jetzt kann niemand sagen, wie lange dieser Krieg dauern wird oder wie lange die politischen Entscheidungsträger brauchen werden, um die damit verbundenen Preissteigerungen zu stoppen (bei denen es sich in einigen Fällen schlicht um Preistreiberei handelt – Stichwort: „Kriegsgewinnler“).

Preisumkehr war vorhersehbar

Dennoch ist der Inflationsverlauf insgesamt einfach erklärbar: Viele der angebotsseitigen Faktoren, die die Preise zu Beginn der Erholung in die Höhe trieben, kehren sich jetzt um. Vor allem der Verbraucherpreisindex für Benzin sackte im Juli um 7,7 Prozent ab und private Indizes deuten auf einen vergleichbaren Rückgang im August hin. Auch diese Preisumkehr war vorhersehbar und sie wurde auch prognostiziert. Die einzige Unsicherheit betraf den Zeitpunkt, zu dem die Entwicklung eintreten würde.

Andere Preise folgen einem ähnlichen Muster. Im Juli stieg der Verbraucherpreisindex ohne Energie und Lebensmittel um relativ bescheidene 0,3 Prozent und auch der entsprechende PCE-Deflator-Wert erhöhte sich lediglich um 0,1 Prozent. Dies deutet darauf hin, dass sich der Lieferrückstand bei importierten Waren – das Problem, das zu Beginn der Pandemie für leere Regale und Betriebsstörungen sorgte – verringert hat.

Aktuelle Daten bestätigen diese Schlussfolgerung. Der Global Supply Chain Pressure Index der Federal Reserve Bank of New York ist seit seinem Höchststand im letzten Herbst stark zurückgegangen und liegt nur noch knapp über dem Wert vor der Pandemie. Die Transportkosten liegen zwar immer noch deutlich über dem Niveau vor der Pandemie, sind aber gegenüber den Höchstständen vom letzten Herbst um fast 50 Prozent gesunken und werden wohl weiter fallen. Nach einem enormen Anstieg in den ersten Monaten des russischen Krieges sind die Preise für eine breite Palette an Rohstoffen wieder auf das Niveau aus der Zeit vor der Pandemie gefallen. Der Baltic Dry Goods Index liegt beispielsweise derzeit unter seinem Durchschnittswert des Jahres 2019.

Auch die Automobilhersteller haben die aufgrund der weltweiten Halbleiterknappheit entstandenen Probleme überwunden. Laut Industrial Production Index der Fed lag die Kraftfahrzeugproduktion im Juli sogar über dem Niveau vor der Pandemie.

Rückgang der Arbeitslosigkeit

Nach einem Jahr zahlreicher schlechter Nachrichten im Hinblick auf Inflation und die ihr zugrunde liegenden angebotsseitigen Faktoren gibt es jetzt eine Reihe positiver Neuigkeiten. Und obwohl niemand behaupten würde, dass sich die geldpolitische Entscheidungsfindung auf Daten aus nur zwei Monaten stützen sollte, ist es doch erwähnenswert, dass sich auch die Inflationserwartungen abgeschwächt haben: Sowohl der Consumer Sentiment Index der University of Michigan als auch der Survey of Consumer Expectations der Fed präsentierten sich im Juli rückläufig.

Die Standardrechtfertigung für die geldpolitische Straffung der Fed lautet, dass diese notwendig sei, um einen Zyklus sich selbst erfüllender Erwartungen zu verhindern, im Rahmen dessen Arbeitnehmer und Unternehmen eine höhere Inflation erwarten und darum Löhne und Preise entsprechend anpassen. Dies kann jedoch nicht geschehen, wenn die Inflationserwartungen sinken, wie es derzeit der Fall ist.

Einige Analysten vertreten die Auffassung, dass die USA eine lange Phase höherer Arbeitslosigkeit benötigen würden, um die Inflation wieder auf das Zielniveau der Fed zu bringen. Diese Argumente beruhen auf den Standardmodellen der Phillips-Kurve. Tatsache ist jedoch, dass Inflation und Phillips-Kurve (die von einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit ausgeht) getrennte Wege eingeschlagen haben. Schließlich war der drastische Anstieg der Inflation im vergangenen Jahr nicht auf einen plötzlichen starken Rückgang der Arbeitslosigkeit zurückzuführen, und die jüngste Verlangsamung des Lohn- und Preisanstiegs lässt sich nicht mit hoher Arbeitslosigkeit erklären.

In Anbetracht der jüngsten Daten wäre es unverantwortlich, wenn die Fed im blinden Glauben an die anhaltende Relevanz der Phillips-Kurve absichtlich eine viel höhere Arbeitslosigkeit schaffen würde. Politische Entscheidungen werden immer unter ungewissen Bedingungen getroffen, und jetzt ist die Ungewissheit besonders groß. Angesichts der sich bereits abschwächenden Inflation und der Inflationserwartungen sollte die Fed dem mit weiterer geldpolitischer Straffung verbundenen Abwärtsrisiko mehr Bedeutung beimessen: nämlich dass sie damit eine bereits angeschlagene US-Wirtschaft in die Rezession stürzen würde. Das sollte für die Fed Grund genug sein, diesen Monat hinsichtlich weiterer Zinserhöhungen eine Pause einzulegen.


*Joseph E. Stiglitz ist Wirtschaftsnobelpreisträger, Universitätsprofessor an der Columbia University und Mitglied der Unabhängigen Kommission für die Reform der internationalen Unternehmensbesteuerung. Dean Baker ist stellvertretender Direktor des Center for Economic and Policy Research in Washington, DC.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

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