Ihr erster Weg nach Kriegsausbruch führte Cezara ins Tiergeschäft. „Als ich von dem Angriff auf Kiew hörte, kaufte ich mir sofort eine Tragebox für meine Katze“, erzählt die dunkelblonde Studentin der Theaterwissenschaften im „Tucano“-Café in der moldauischen Hauptstadt Chisinau: „Damit ich mit Margret sofort wegkann, wenn es sein muss.“
Neun Jahre war die heute 23-jährige Moldauerin alt, als ihre Mutter nach Italien zog. 14 Jahre war sie, als ihr Vater nach Polen auswanderte. Sie sei in dem Emigrationsland keineswegs ein Einzelfall, sagt die bei ihren Großeltern aufgewachsene Cezara: „In meiner Klasse gab es fast nur Kinder, von denen mindestens ein Elternteil im Ausland lebte.“ Nun ist es der Krieg, der die Emigrantentochter bereits länger gehegte Auswanderpläne neu schmieden lässt.
„Fast jeder meiner Freunde hat einen Plan B“, berichtet Cezara und nippt nachdenklich an ihrem Kaffee: „Wenn die Russen Kiew und Odessa einnehmen, stehen sie vor unserer Tür. Wir haben keine richtige Armee. Wer sollte sie davon abhalten, uns auch noch einzusacken?“ Die meisten ihrer jüngeren Landsleute trügen ohnehin „Emigrationspläne“, sagt sie und streicht sich eine Strähne aus ihrem Gesicht: „Die werden jetzt nur konkreter. Wenn der Krieg auch nach Moldau kommen sollte, sind die Jungen sofort weg.“
Es ist eine merkwürdig betriebsame Stimmung in Chisinau. Volle Tische in den Restaurants und ausgebuchte Betten in den Hotels: Der Krieg in der Ukraine und der ungewohnt große Andrang von Flüchtlingen, Angehörigen von Hilfsorganisationen, Diplomaten und Journalisten hat die Zimmerpreise in astronomische Höhen schnellen lassen. Der amerikanische Außenminister und seine deutsche Kollegin waren schon da. Andere werden noch kommen. Doch während sich Spitzenpolitiker aus aller Welt im sonst kaum frequentierten Chisinau derzeit die Klinke in die Hände drücken, ist bei immer mehr Einheimischen Kofferpacken angesagt.
„Manche, die ihr Geld und Geschäfte in ein anderes Land transferieren können, sind schon gegangen. Und der Krieg könnte die Abwanderung noch beschleunigen“, sagt in seinem Büro der Analyst Arcadie Barbarosie, der Direktor des renommierten IPP-Instituts: „Die Leute haben Angst. Denn wenn der Krieg an unsere Grenzen gelangt, wird er sicher nicht am Dnister im Osten, sondern an der rumänischen Grenze am Pruth im Westen stoppen. Das wäre für uns sehr schwierig.“
Tiraspol – als wäre die Zeit stehen geblieben
Eigentlich decke Rumäniens Raketenschirm auch Moldau ab, so Barbarosie: „Aber ich bin mir keineswegs sicher, ob Rumänien uns schützen würde. Wenn allerdings irgendeine Art von Angriff auf Rumänien erfolgen sollte, würde das den Kriegseintritt der NATO bedeuten. Die würde in diesem Fall auch uns schützen – wenn es dann überhaupt noch irgendetwas zu schützen gebe.“
80 Kilometer weiter im Osten blinkt in Tiraspol die Sonne über den trägen Fluten des Dnister – und auf den Gedenktafeln für die Toten der Stadt im Zweiten Weltkrieg, im sowjetischen Afghanistankrieg (1979-1989) und im Transnistrienkrieg 1992: „Ewiges Gedenken für die glorreich Gefallenen.“

Nach Moldaus Unabhängigkeit 1991 hatte sich der mehrheitlich russofone Landstrich östlich des Dnister vom überwiegend rumänischsprachigen Staatsneuling in einem kurzen, aber blutigen Krieg abgespalten. Die faktische Unabhängigkeit des 470.000 Seelen zählenden Transnistrien wird zwar international von niemandem anerkannt. Doch der Parastaat wird von Moskau schon seit seiner Gründung gestützt: Noch immer sind 1.200 russische Soldaten als „Friedenstruppen“ in Transnistrien stationiert.
Rote Sterne zieren die Eingänge der russischen Kasernen am Ortseingang von Tiraspol. Als wäre die Zeit stehen geblieben, thront Lenin noch stets auf dem Denkmalsockel. Mit sowjetischem CCCP-Helm grüßt Weltraumpionier Gagarin überlebensgroß von einer Häuserwand. Die Sowjet-Insignien Hammer und Sichel haben zumindest auf der transnistrischen Flagge überlebt. Außer den Flaggen Russland und Transnistriens knattern neben dem Reiterstandbild auch die Fahnen anderer nicht anerkannter Staaten wie Ossetien, Abchasien, Luhansk und Donezk im Wind: Mit dem Ukrainekrieg scheint die Erfüllung des transnistrischen Traums vom Anschluss an Russland erstmals näherzurücken.
„Andere Medien – und Informationen“
Die Zeiten des Slalomfahrens auf der Dnister-Brücke ist vorbei: Ausgerechnet kurz vor dem Beginn des Ukrainekriegs wurden laut Barbarosie die 1992 installierten Betonblöcke auf der Brücke entfernt: „Ich vermute mal, damit auch Panzer über die Brücke rollen können.“

Dennoch sei kaum mit einem Szenario wie zu Beginn des Ukrainekriegs zu rechnen, als die Separatisten in Donezk und Luhansk Moskau um militärische Hilfe baten: „Wenn Transnistrien Putin um Hilfe rufen sollte, würde es von der Ukraine und Moldau sofort in den Sandwich genommen und zermalmt. Das Regime in Tiraspol dürfte sich darum erst den Russen anschließen, wenn die hier sind.“
Nein, sie habe keine Angst, dass der Krieg nach Transnistrien kommen könnte, versichert unweit der Festung von Bender eine blonde Dame mit schwarzer Hornbrille: „Die Leute kümmern sich sehr um die Flüchtlinge aus der Ukraine, die nach Transnistrien kommen. Aber ich bin nicht beunruhigt, was die Entwicklung der Lage angeht.“ Gefragt, wie sie sich die wachsende Kriegssorge am moldawischen Westufer des Dnister erkläre, zuckt sie mit den Schultern: „Wir haben eben andere Medien – und Informationen.“
Wenn sein geplanter Blitzfeldzug in der Ukraine Erfolg gehabt hätte, würde er jetzt schon die NATO im Baltikum, Polen oder Rumänien herausfordern, davon bin ich überzeugt. Doch alle seine Spielchen wurden von der Courage der Ukrainer durchkreuzt: Sie verteidigen heute wirklich den Frieden von morgen.
Den Transnistrien-Konflikt hatte Viorel Cibotaru als Soldat der moldauischen Armee erlebt. Heute listet der frühere Verteidigungsminister und jetzige Direktor des IESP-Institus in Chisinau offen die lange Mängelliste der heimischen Streitkräfte auf. Zwar sei mittlerweile „eine große Zahl“ von Offizieren im Westen ausgebildet worden. Doch sei die Ausrüstung der 5.500 Mann starken Armee völlig veraltet, es fehlte an Munition, an allem: „Wir haben sechs MiG-29 und mehrere Transportflugzeuge, die nicht mehr flugfähig sind. Wir haben Helikopter, die verliehen sind: Wir haben praktisch keine Luftwaffe.“
Viele bereit, mit Russen zu kooperieren
Viel besser sei es allerdings auch nicht um die Ausrüstung der transnistrischen Armee bestellt – trotz ihrer Stärke von 7.000 Mann und 18 betagten T64- und T72-Panzern. Zumindest auf beiden Seiten des Dnister sieht er durchaus ein militärisches Gleichgewicht: „Die Transnistrier haben keine Armee, um Moldau zu besetzen. Und Moldau kann Transnistrien nicht besiegen“, meinte Viorel Cibotaru.
Doch eine russische Spezialbrigade könne jede Verteidigung in Moldau brechen – genauso wie in Rumänien, ist Cibotaru überzeugt. Um dem Westen ein „härteres Signal“ zu schicken, wäre Moldau trotz Neutralität ein ideales Ziel: „Denn Moldau ist schwach und kann nicht reagieren.“

Die Russen könnten das Land selbst ohne eine Invasion einnehmen: „Sie könnten zum Beispiel nach dem Krim-Modell erst einmal 3.000, 4.000 Leute auf die Straße schicken, um sie gegen die Regierung, gegen die NATO, Flüchtlinge oder sonst etwas demonstrieren zu lassen. Drei, vier Luftschläge auf Kommandoposten, um Panik zu schaffen, wären danach genug. Denn es gibt hier genügend Leute, die bereit sind, mit den Russen zu kooperieren.“
Zur Einnahme von Moldau wäre seiner Meinung nach auch keineswegs eine Eroberung des nur 50 Kilometer entfernten Odessa notwendig: „Wenn die Russen von Mikolajiw nach Transnistrien einen Korridor schaffen, haben sie die Ukraine auch so fast vollständig vom Schwarzen Meer abgeriegelt.“ Doch letztendlich gehe es Putin weder um die Ukraine noch um Moldau, sondern um eine neue Ordnung in Europa, ist Viorel Cibotaru überzeugt: „Wenn sein geplanter Blitzfeldzug in der Ukraine Erfolg gehabt hätte, würde er jetzt schon die NATO im Baltikum, Polen oder Rumänien herausfordern, davon bin ich überzeugt. Doch alle seine Spielchen wurden von der Courage der Ukrainer durchkreuzt: Sie verteidigen heute wirklich den Frieden von morgen.“
De Maart
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