Mittwoch12. November 2025

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Die 99 Prozent

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Als die Wall-Street-Proteste begannen, wurde ihnen kaum Beachtung geschenkt. Mittlerweile berichten sämtliche Medien über das Phänomen, und die Kundgebungen beschränken sich nicht mehr nur auf Manhattan, sondern haben sich bis nach Washington ausgebreitet.

Das Eingreifen der Polizei auf der Brooklyn Bridge, einem der Wahrzeichen New Yorks, und die wütenden Beschimpfungen des Bürgermeisters Michael Bloomberg haben – wenn auch ungewollt – der Protestbewegung die nötige Werbung gebracht. Am Anfang beteiligten sich nur wenige Linke und Hippies an den Protesten, doch rasch sprachen ihre Forderungen und Kritikpunkte eine breitere Bevölkerungsschicht an. Studenten, Gewerkschafter und Angestellte ließen die Zahl der Demonstranten auf mehrere Tausend ansteigen.

Logo" class="infobox_img" />Michelle Cloos [email protected]

In den Vereinigten Staaten gibt es keine Demonstrations- und Streikkultur, wie es beispielsweise in vielen westeuropäischen Ländern der Fall ist. Soziale Kritik und die Idee der Solidarität schrecken die US-Amerikaner meistens ab und werden als gefährlicher Kommunismus verteufelt. Wenn die Amerikaner dann doch auf die Straße gehen, tun sie es meistens, um gegen Steuererhöhungen zu schäumen.

In den vergangenen Monaten hörte man vor allem die grotesken Parolen der rechtspopulistischen Tea-Party-Anhänger. Deshalb ist die „Occupy Wall Street“-Bewegung so interessant. Sie drückt die angestauten Frustrationen und Enttäuschungen der amerikanischen Mittelklasse aus.

Empörung auf der Main Street

„Wir sind die 99 Prozent“, lautet einer der Slogans. Die Empörung richtet sich gegen die Gier an der Wall Street, die sich zunehmend verschlechternden Lebensbedingungen der Mehrheit der Bürger, die unter den Konsequenzen der Krise leiden, und gegen die Herren der Finanzwelt, die weiterhin ungeniert im Überfluss leben und längst wieder zum „business as usual“ zurückgekehrt sind.

Damit können sich seit 2008 immer mehr Menschen identifizieren. Die Realität ist nämlich, dass das Sozialsystem in den USA miserabel bis nicht existent ist. Auch die Regierung von Barack Obama hat diese Missstände trotz des Versprechens, sich für die „Main Street“ (die Mittelschicht) einzusetzen, und des Durchpeitschens einer Gesundheitsreform nicht signifikant verbessern können.

Eine ausreichende Rente beziehen zu dürfen, ist in Amerika nicht garantiert. Über 70-Jährige, die sich bis quasi an ihr Lebensende mit schlecht bezahlten Jobs über Wasser halten müssen, sind kein Einzelfall. Auch die junge Generation hat es nicht leicht. Rund zehn Prozent der Universitätsabgänger unter 25 Jahren finden keine Arbeit. Bei den jungen Leuten mit Abitur sind sogar fast 22 Prozent arbeitslos. Es ist demnach nicht überraschend, dass auch Studenten von Elite-Unis sich unter die Demonstranten mischen, um ihren Ängsten und ihrem sozialen Unmut Ausdruck zu verleihen.

„Die Probleme der Protestierenden sind nur eine Illustration davon, dass die Wirtschaft für die meisten Amerikaner nicht funktioniert“, analysierte die New York Times letzte Woche in einem Leitartikel. In der Tat lässt das US-System zahlreiche Menschen auf der Strecke. Die wachsende Sympathie für die Protestbewegung gilt demnach als Warnsignal an die Politik, sich nicht mit halbherzigen Reformen zu begnügen, und sollte ernst genommen werden. Das bemerkte auch bereits Präsident Obama, der Verständnis für das Anliegen der „Occupy Wall Street“-Bewegung äußerte. Jetzt stellt sich allerdings die Frage, ob und, falls ja, welche Taten er auf diese Worte folgen lassen wird.