2. Dezember 2025 - 7.41 Uhr
Social MediaBrüste raus, zurück an den Herd: Die gefährliche Retraditionalisierung der Geschlechterrollen
Der junge Mann beugt seinen nackten, durchtrainierten Oberkörper nach vorne in Richtung Kamera: „Fir alleguerten déi Leit, déi gäre wësse wellen, wat Fraen a mengem Liewe bedeiten.“ Er richtet sich wieder auf, blickt aus dem Bild und winkt jemanden herbei: „Komm mol e Schrëtt no vir.“ Eine junge Frau tritt ins Bild, ärmelloses Top, ihr Gesicht ist nicht zu sehen, ihr Kopf ragt aus dem Sichtfeld der Kamera. Der junge Mann hat einen Stift in der Hand. „Et ass e Bic-Halter.“ Auf dieses Kommando drückt sie ihre Oberweite zusammen und er steckt ihr den Stift zwischen die Brüste.
Der TikTok-Account, auf dem dieses neunsekündige Video aus dem Sommer 2023 zu sehen ist, gehört einem Luxemburger Streamer, der heute im Ausland lebt. Er hat knapp fünfeinhalbtausend Follower, das Video wurde beinahe 7.000 Mal angeschaut.
Die öffentliche Abwertung und Degradierung von Frauen ist heute wieder so salonfähig wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Und eine besondere, brandbeschleunigende Rolle spielt dabei: das Internet. Höchstens 23 Minuten dauert es, einer Studie der Dublin City University aus dem Jahr 2024 zufolge, bis einem männlichen Jugendlichen auf TikTok frauenfeindlicher Inhalt angezeigt wird. Social Media, das ist schon lange bekannt, ist ein Brutkasten für reaktionäre Geschlechterrollen.
Die Rolle der Influencer
Zwischen Schönheits-Diktat, vermeintlichen Traditionen und verzerrten Ansprüchen wird hier ein Kulturkampf ausgefochten. Kürzlich hat das Erwachsenenbildungszentrum EwB eine „Table Ronde“ unter dem Titel „Toxesch Genderrepresentatiounen Online“ organisiert – mit vielen Expertinnen und Experten, die aus ihrer täglichen Arbeit mit Jugendlichen berichteten. Jugendliche, deren Vorstellungen von Männern, Frauen und allem dazwischen maßgeblich durch das Internet und seine Persönlichkeiten geprägt werden.

Schon 2019 hat die MaLisa-Stiftung die Selbstinszenierung von Influencern im deutschsprachigen Netz untersucht. Das Ergebnis: Die Geschlechterdarstellungen in den erfolgreichsten YouTube-Kanälen basieren auf veraltet anmutenden Stereotypen. Während Frauen sich überwiegend im privaten Raum zeigen, Schminktipps geben und ihre Hobbys präsentieren (Basteln, Nähen, Kochen), bedienen Männer deutlich mehr Themen: von Unterhaltung über Musik bis zu Games, Comedy und Politik. „Influencer sind nicht die Ursache von Geschlechterungerechtigkeiten“, sagt Esin Göksoy vom CID bei der „Table Ronde“ der EwB. „Aber sie legitimieren sie.“ Karin Weyer, Direktorin von respect.lu, dem Zentrum für Deradikalisierung, pflichtet ihr bei und spricht von den Wechselwirkungen zwischen analoger und digitaler Welt.
Influencer sind nicht die Ursache von Geschlechterungerechtigkeiten. Aber sie legitimieren sie.
Jugendliche sind besonders empfänglich für Repräsentationen von Geschlecht, sie sind unsicher, auf der Suche. Viele Jungen fragen sich, was es heute bedeutet, ein Mann zu sein. Obwohl unsere Gesellschaft noch immer von Männern dominiert wird, gibt es gerade für junge Männer wenig positive Anknüpfungspunkte. Männlichkeit wird seit einigen Jahren kritisch hinterfragt, ebenso wie einst positiv und „männlich“ konnotierte Eigenschaften. Alte Leitbilder fallen weg, es fehlt an neuen Vorbildern. In dieser Unsicherheit sind vor allem junge Männer ein gefundenes Fressen für antifeministische Influencer.
Einer der berühmtesten ist seit vielen Jahren der kanadische Psychologe Jordan Peterson. Sein Selbsthilfebuch „12 Rules for Life“ war 2018 ein internationaler Beststeller – und lag an jeder Flughafen- und Bahnhofsbuchhandlung aus. Peterson ist ein rechter Libertärer, der deutsche Autor Adrian Daub bezeichnete ihn einst als „erste Celebrity der Cancel-Culture-Ära“. Eine andere Schlüsselfigur der sogenannten „Manosphere“ ist Andrew Tate, angeklagt wegen Vergewaltigung und Menschenhandel, an der Oberfläche aber ein Fitness-Influencer. Lebenslektionen, Bizeps-Tipps und Frauenverachtung, diesem Modell folgen etliche Social-Media-Konten auf der ganzen Welt. Auch in Luxemburg, wie das Beispiel zu Beginn zeigt.
Einfallstor für Rechtsextreme und Fundamentalisten
Doch es muss nicht immer gleich radikal sein. Social Media hilft auch dabei, falsche Erwartungen zu schüren und weiterzutragen – und das gilt für alle Geschlechter. Auf einschlägigen Plattformen wie Instagram oder TikTok gibt es unzählige Videos, in denen junge Frauen nach den Voraussetzungen gefragt werden, die ein potenzieller Partner mit sich bringen muss. Die Standard-Antwort ist meist eine Variante von „6 feet, 100k“ – größer als 1,82 Meter und Einkommen über 100.000 Dollar im Jahr. Das ist nicht nur die berühmte sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen, sondern lässt Persönlichkeit, Charaktere und Wertevorstellungen außen vor. Aber die Männer sind nicht besser. Charlotte Pull vom ZEV („Zenter fir exzessiivt Verhalen a Verhalenssucht“) berichtet bei der EwB: „Uns begegnen immer mehr junge Männer um die 14 Jahre, die sich einen bestimmten Lifestyle wünschen. Schnell viel Geld und eine Partnerin, die Jungfrau ist, aber sexy. Dünn, aber gut kochen kann. Die Freunde sollen neidisch sein, aber ausgehen soll die Frau auch nicht.“

In den vergangenen Jahren hat die Retraditionalisierung von Geschlechterrollen online einen neuen Höhepunkt erreicht. Das mag auch daran liegen, weil sie ein Bedürfnis nach Identität stillen, nach Harmonie und Einfachheit in einer komplexer werdenden Welt. Ein markantes Beispiel dafür ist das Phänomen der „Tradwives“, junge Frauen, die sich als Hausfrauen inszenieren, die für Mann und Kinder den ganzen Tag in der Küche stehen und kochen. Selbstverständlich ohne verarbeitete Lebensmittel. Die „Tradwife“ macht auch Cornflakes von Grund auf. Der Widerspruch, dass Frauen mit Content Geld verdienen, der anpreist, dass Frauen kein eigenes Geld verdienen sollen, wird hingenommen. Auch wenn immer wieder die Grenze zwischen Satire und absurder Realität verschwimmt (noch so ein Zeitgeistphänomen), bilden die „Tradwives“ doch ein Einfallstor für rechtsextreme und fundamentalchristliche Ideologien und ihre strengen Hierarchien zwischen den Geschlechtern.
Schulen rufen uns bei Hakenkreuzen, bei antisemitischen Vorfällen, bei Rassismus. Aber nicht bei Misogynie.
Es sind deshalb auch rechtsextreme Parteien wie die AfD, die auf TikTok sehr erfolgreich über Geschlechterthemen („Echte Männer sind rechts“) mobilisieren. Frauenhass, Rechtsextremismus und Antisemitismus sind historisch miteinander verknüpft, das reicht vom Beginn der Frauenrechtsbewegung bis zu Terroristen und Massenmördern wie Anders Breivik. Und doch wird deren Zusammenwirken bis heute noch immer unterschätzt. Radikalisierungsexpertin Weyer sagt dazu: „Schulen rufen uns bei Hakenkreuzen, bei antisemitischen Vorfällen, bei Rassismus. Aber nicht bei Misogynie.“
Die Dringlichkeit dieses Themas wird auch am Abend in der EwB erkannt. Reaktionäre Geschlechternarrative stellen eine Gefahr dar für die Demokratie und die nationale Sicherheit. Der entscheidende Faktor ist dabei das Internet. Social Media belohnen Dissonanz, Streit und Radikalisierung – solche Inhalte werden gefördert. Prinzipiell bietet das Netz natürlich die Chance, Diversität zu zeigen und unterschiedliche Lebensmodelle jenseits von Heteronormativität. „Leider pushen das die Algorithmen nicht“, sagt Charlotte Pull. Im Gegenteil: Wenn man sich anschaut, zu welcher Schlangengrube Elon Musks X verkommen ist, und wie Metas Mark Zuckerberg von „male energy“ faselt, wird deutlich: Die Tech-Bros stehen an vorderster Front dieser Entwicklung. Eine staatliche Regulierung der Plattformen scheint der einzige Ausweg. „Der Staat hat die Pflicht, Kinder zu schützen“, sagt Weyer, „aber das machen wir einfach nicht.“
Staatliche Regulierung, ein eigenes europäisches Social Media, Prävention und Aufklärungsarbeit. Die Lösungsvorschläge, die an diesem Abend bei der EwB kursieren, sind altbekannt. Runden wie diese drehen sich schon seit mehr als zehn Jahren um eben jene Lösungsansätze. Und doch ist die Lage in dieser Zeit eigentlich nur schlimmer geworden. Das liegt keineswegs an der wichtigen Arbeit, die Frauen und Männer wie die Expertinnen und Experten an diesem Abend tagein, tagaus leisten. Es zeigt vielmehr die gesellschaftliche Ohnmacht gegenüber digitalen Dynamiken und ihren zersetzenden Wirkungen. Die Spaltung schreitet voran.
De Maart

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