12. November 2025 - 6.48 Uhr
ForumWarum die Schulreform das Wohl der Kinder aus den Augen verliert
Luxemburg wollte mit seiner Schulreform ein modernes, innovatives Bildungssystem schaffen. Doch zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft eine gefährliche Lücke: Kinder sind überfordert, Eltern erschöpft, Lehrkräfte überfordert und das eigentliche Ziel von Bildung, nämlich Lernen mit Sinn, gerät aus dem Blick.
Überforderung im Kindesalter, ein strukturelles Problem – Bereits in den ersten Schuljahren zeigen sich deutliche Anzeichen von Überlastung. Offiziell sollen Kinder im Zyklus 1 keine schriftlichen Hausaufgaben erhalten, im Zyklus 2 höchstens zwei Stunden pro Woche, und ab Zyklus 3 maximal vier. Doch in der Praxis verbringen viele Kinder jeden Abend zwischen anderthalb und drei Stunden mit Aufgaben, ein Pensum, das selbst Erwachsene ermüden würde.
Pädagogisch betrachtet ist diese Entwicklung fatal. Die Forschung zur kindlichen Kognition zeigt, dass Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit nach etwa 20 bis 30 Minuten intensiver Konzentration deutlich sinken. Ein Grundschulkind, das nach einem vollen Unterrichtstag noch stundenlang arbeitet, lernt nicht effizient, es trainiert nur seine Erschöpfung. Selbst die OECD und die Unesco betonen: Mehr Hausaufgaben führen nicht automatisch zu besseren Leistungen. Entscheidend ist die Qualität der Aufgaben, nicht ihre Menge. Lernen braucht Zeit für Verarbeitung, Wiederholung und spielerische Anwendung, genau das, was im jetzigen System fehlt.
Kinder aus bildungsnahen Familien erhalten oft Hilfe, während andere allein gelassen werden. So entsteht ein Kreislauf der Ungleichheit, den die Schule eigentlich durchbrechen sollte.
Hausaufgaben zwischen Theorie und Realität – Hausaufgaben sollen laut Bildungsforschung das Gelernte festigen und Selbstständigkeit fördern. Doch dafür müssen sie angemessen, verständlich und lösbar sein. Wenn Kinder jedoch Aufgaben ohne Unterstützung verstehen müssen, die eigentlich erst im Unterricht erklärt werden sollten, wird das Prinzip umgekehrt: Nicht das Kind lernt, sondern die Eltern unterrichten. Damit verschiebt sich die pädagogische Verantwortung von der Schule ins Wohnzimmer, mit gravierenden sozialen Folgen. Kinder aus bildungsnahen Familien erhalten oft Hilfe, während andere allein gelassen werden. So entsteht ein Kreislauf der Ungleichheit, den die Schule eigentlich durchbrechen sollte.
Psychische Gesundheit und Lernfreude, zwei Seiten derselben Medaille – Psychologen warnen seit Jahren: Dauerstress und Überforderung im Grundschulalter führen zu einer erhöhten Ausschüttung von Cortisol – einem Stresshormon, das Konzentration und Gedächtnisleistung beeinträchtigt. Kinder, die ständig das Gefühl haben, „nicht genug“ zu leisten, verlieren das Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Das Ergebnis sind Schlafstörungen, psychosomatische Beschwerden, Angst vor Fehlern und ein wachsender Leistungsdruck. Symptome, die längst in luxemburgischen Praxen sichtbar sind. Lernen basiert auf Motivation, nicht auf Zwang. Wie der Schweizer Pädagoge Jean Piaget betonte: Kinder lernen nicht, weil man sie zwingt, sondern weil sie verstehen wollen. Ein Bildungssystem, das Neugier in Erschöpfung verwandelt, verliert seinen Sinn.
Lehrkräfte zwischen Pflicht und Pädagogik – Auch die Lehrerinnen und Lehrer sind Teil dieses Problems, nicht aus Schuld, sondern aus strukturellem Zwang. Die Lehrpläne sind überfrachtet, die Klassen heterogen, die Zeit zu knapp. Viele Lehrkräfte berichten, dass sie ohne Hausaufgaben „den Stoff nicht schaffen“. Doch wenn ein System nur funktioniert, indem es die Belastung an Familien weitergibt, stimmt etwas Grundlegendes nicht. Pädagogisch betrachtet muss Unterricht dort stattfinden, wo Lernen geschieht, in der Schule, nicht am Küchentisch. Eine zeitgemäße Bildungspolitik müsste Lehrkräften die Freiheit geben, den Unterricht zu entschleunigen, zu differenzieren und die Lernprozesse der Kinder zu begleiten, statt sie zu überfordern.
Eltern ohne Gehör und ohne Mitgestaltung – Eltern sind die wichtigsten Partner der Schule, doch viele fühlen sich machtlos. Sie wissen, dass ihre Kinder erschöpft sind, doch sie wagen kaum, Kritik zu äußern aus Angst, dem Kind zu schaden. Hinzu kommt, dass die soziale Realität sich verändert hat: In den meisten Familien arbeiten beide Elternteile. Kinder verbringen den Nachmittag in der „Maison relais“, einem Ort, der selten die Ruhe oder Betreuung bietet, die individuelles Lernen braucht. Die Schule aber erwartet weiterhin dieselbe Unterstützung wie in einer Zeit, in der ein Elternteil zu Hause war. Das ist nicht nur realitätsfern, sondern sozial ungerecht.
Die Rolle der Elternvertretung: Mitgestalten statt Schweigen – In diesem Zusammenhang ist das Schweigen der nationalen Elternvereinigung FAPEL besonders bedenklich. Eine Organisation, die Familien vertritt, darf sich nicht darauf beschränken, ministerielle Entscheidungen zu begleiten. Demokratische Teilhabe bedeutet, Missstände zu benennen, nicht sie zu verschweigen. Wenn Elternvertretungen ihre Kontrollfunktion verlieren, wird aus Mitbestimmung eine Formalität und die Stimme der Familien verstummt.
Kinder lernen besser, wenn sie sich sicher, verstanden und neugierig fühlen. Das bedeutet weniger Überforderung, mehr Lernqualität und Raum für kindliche Entwicklung.
Bildung neu denken – mit Kopf, Herz und Mut – Die Diskussion um Hausaufgaben ist kein Nebenthema. Sie berührt das Fundament des Lernens: Wie wollen wir Wissen vermitteln und was verstehen wir unter Bildung?
Eine Schule des 21. Jahrhunderts muss die Erkenntnisse der Lernpsychologie ernst nehmen: Kinder lernen besser, wenn sie sich sicher, verstanden und neugierig fühlen. Das bedeutet weniger Überforderung, mehr Lernqualität und Raum für kindliche Entwicklung.
Der Pädagoge Wolfgang Klafki sprach von Bildung als Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität. Diese drei Prinzipien sollten die Grundlage jeder Reform sein. Luxemburg kann stolz auf seine Investitionen in Bildung sein, aber Geld ersetzt kein pädagogisches Konzept. Exzellenz beginnt nicht mit Druck, sondern mit Vertrauen.
Schlussfolgerung – Die Schulreform wollte das Lernen modernisieren, stattdessen hat sie es beschleunigt. Kinder sollen nicht nur funktionieren, sie sollen verstehen, fühlen und wachsen dürfen. Eine zukunftsfähige Schule muss für Kinder gestaltet werden, nicht auf ihre Kosten. Und Reformen, die das Wohl der Lernenden ignorieren, sind keine Fortschritte, sondern Rückschritte in ein System der Anpassung. Denn Lernen darf keine Last sein, es ist ein Menschenrecht.
De Maart
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