Andererseits laufen auch dieser Religion die Gläubigen weg. Jahr für Jahr geben sich in Umfragen weniger Briten zufrieden mit ihrer Gesundheitsversorgung. Man habe „beispiellos tiefe Zustimmungsraten“ erreicht, warnt Matthew Taylor vom Verband der NHS-Manager.
Bei den Verantwortlichen besteht kein Zweifel am Ernst der Lage. Das Gesundheitssystem sei „kaputt“ und „kämpft ums Überleben“, weiß Labours Ressortminister Wesley Streeting. Die dort verschwendeten Milliarden „bringen einen zum Weinen“, klagt Penny Dash, die dem Aufsichtsrat der nachgeordneten Behörde NHS England vorsitzt. Deren operativer Leiter James Mackey scheint von seinen Leuten nicht viel zu halten: Das Personal stelle sich „taub gegenüber Kritik“ und behandle „Patienten als Belästigung“.
An markigen Parolen fehlt es ebenso wenig wie an schlimmen Fakten. Das NHS behandelt Patienten in unterschiedlichen Regionen unterschiedlich gut, was Dash vornehm für einen „Makel“ hält. Streeting wird deutlicher: „Häufig bekommen die Armen auch die armseligste Betreuung.“ Nach einer Berechnung der Statistikbehörde ONS werden jährlich umgerechnet sieben Milliarden Euro verschwendet, weil das Prinzip der „best practice“ nicht befolgt wird.
Wie in anderen Ländern der westlichen Welt macht auch dem Königreich die älter, dicker und dadurch kränker werdende Bevölkerung zu schaffen. Die Folge: Das 77 Jahre alte System ächzt unter dem einst ehernen Prinzip der Kostenfreiheit. Dabei ist dieser Grundsatz längst aufgeweicht: Wer nicht ohnehin staatlich unterstützt wird wie die Millionen von Arbeitslosen und ökonomisch Inaktiven, muss für jedes Rezept in der Apotheke 11,35 Euro bezahlen. Die eigentlich empfohlene halbjährliche Nachschau bei der Zahnärztin ist kaum unter 35 Euro zu haben, die halbe Stunde bei der Zahnhygienikerin kostet leicht das Doppelte. Dementsprechend selten gehen die Briten zum Zahnarzt – wenn sie denn überhaupt einen haben.
Prävention forcieren
Im Vergleich mit ähnlich großen Ländern wie Deutschland oder Frankreich geben die Briten nach Angaben der OECD mit zuletzt 10,9 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (Kalenderjahr 2023) weniger aus, liegen etwa gleichauf mit Schweden oder Österreich. Krebskranke, Herzleidende oder Schlaganfall-Opfer haben deutlich schlechtere Aussichten als in den Nachbarländern. Die Insel hat pro Kopf der Bevölkerung weniger Krankenhausbetten, beschäftigt weniger Ärztinnen und Pflegepersonal und verfügt über weniger Diagnosetechnik wie CT oder MRT als die meisten Industriestaaten der Welt. Die durchschnittliche Lebenserwartung ging von 2019 auf 2023 auf 81,3 Jahre zurück.
Minister Streeting und sein für England zuständiges Team – die anderen Regionen des Königreichs werden regional betreut – haben dem NHS deshalb eine umfassende Reform verordnet und dafür einen auf zehn Jahre angelegten Plan vorgelegt. Das 168-seitige Dokument fokussiert auf drei Themenfelder. Erstens werden Polikliniken in Stadtvierteln und kleineren Städten die überforderten und überfüllten Krankenhäuser entlasten, ein Gutteil der Patientenbetreuung würde also näher an ihrem Zuhause erfolgen. Den Bürgern eröffnet eine expandierte NHS-App die Möglichkeit, sich selbst für Psychotherapien oder Krankengymnastik anzumelden, anstatt wie bisher auf die Überweisung durch den Hausarzt zu warten.
Zweitens soll das NHS die Prävention forcieren. Dabei konzentriert man sich auf die Eindämmung der stetig zunehmenden Fettsucht: Der Anteil adipöser Erwachsener an der Bevölkerung hat sich binnen 20 Jahren verdoppelt, jedes fünfte Schulkind von elf Jahren trägt massives Übergewicht mit sich herum. Nun will Streeting den Zugang zu Medikamenten zur Gewichtsreduktion wie Mounjaro erleichtern, gleichzeitig Jugendlichen unter 16 den Zugang zu Energy-Drinks erschweren.
Fachleute sind skeptisch
Drittens soll das NHS vom analogen ins digitale Zeitalter kommen. „Dieser Plan wird einem Technik-Bummler des 20. Jahrhunderts die Führungsrolle zuweisen, zu der er fähig ist“, heißt es dazu blumig. Ziel sei, mithilfe der NHS-App das „am besten digital zugängliche Gesundheitssystem der Welt“ zu schaffen.
Praktiker vor Ort und die Fachleute der Thinktanks geben sich überwiegend skeptisch. Jennifer Dixon von der Health Foundation spricht wegwerfend von „einer Vision“, solange nicht „die grundlegenderen sozialen und wirtschaftlichen Ursachen von Krankheiten“ angegangen werden. Sarah Woolnough vom King’s Fund warnt mit Verweis auf „ganz elementare IT-Probleme und veraltete Geräte“ vor allzu viel Hoffnung: „Mitteilungen zur technischen Ausstattung des NHS sind stets voller Versprechungen, an der Umsetzung aber mangelt es.“
Die wenig ermutigende Reaktion ficht Minister Streeting nicht an. Der zunehmend als Kronprinz der schlingernden Labour-Regierung gehandelte Politiker gibt sich auch nach knapp 15 Amtsmonaten optimistisch: „Für das NHS lautet die Alternative Reform oder Tod. Den Kampf ums Überleben werden wir gewinnen.“
De Maart
Ich wage nicht mal daran zu denken , wenn bei Freund Gregory aus Manchester der Blinddarm raus musss .
"Dementsprechend selten gehen die Briten zum Zahnarzt – wenn sie denn überhaupt einen haben." Lustig, Freund Gregory aus Manchester hat sich einen Zahn ziehen lassen , vom Nachbarn, der war früher mal bei einer Autowerkstatt. Hätte ich noch jemand für die Hüfte! Sein alter Direktor aus Stafford hat sich seine "manufactory" komplett erneuern lassen, in der Schweiz, inklusive Urlaub. Es gibt auch dort noch Leute wo das NHS funktioniert.