Die Festivaljury unter der Leitung der französischen Schauspielerin Juliette Binoche steht vor einer anspruchsvollen Herausforderung: Die Bandbreite der diesjährigen Beiträge erstreckt sich von Meditation und Andacht bei Mascha Schillinski sowie Olivier Laxe bis hin zur Konfrontation bei Dominik Moll und Ari Aster – um nur ein paar Beispiele zu nennen.
„Dossier 137“: „Gilets jaunes“ in Cannes
In „Dossier 137“ von Dominik Moll steht die Polizeigewalt gegenüber der Gelbwestenbewegung in Paris thematisch im Zentrum. „Le mouvement des Gilets jaunes“ war eine breite Protestaktion in Frankreich, die im Herbst 2018 begann und über Monate hinweg das Land prägte. Ihren Ursprung hatte sie in einem tief sitzenden Unmut über soziale Ungleichheit und die empfundene Missachtung der Bedürfnisse des einfachen Volkes, insbesondere in ländlichen Gebieten.
Der unmittelbare Auslöser war die von Präsident Emmanuel Macron geplante Erhöhung der Kraftstoffsteuer, insbesondere auf Diesel, die viele Menschen als wirtschaftlich belastend und sozial ungerecht empfanden. Unzählige Bilder und Videos zirkulierten medial in Frankreich, vielfach Aufnahmen mit der Smartphone-Kamera. Dieses dokumentarische Material lässt Moll in seinen neuen Film einfließen, um die kriminalistische Handlungsführung rund um eine ermittelnde Polizistin kontextuell und authentisch aufzuladen.

Die nüchterne, dokumentarische Erzählweise und die präzise Darstellung der Ermittlungsarbeit rund um den fiktiven Fall Guillaume Girard, der das titelgebende „Dossier 137“ ausmacht, prägen diesen Film. Insbesondere bei der Auswertung von Originalaufnahmen – sowohl offizielles Überwachungsmaterial als auch Handyvideos von Demonstrierenden – zeigt Moll, wie mit technischer Unterstützung Perspektiven rekonstruiert, Bildausschnitte vergrößert und in Zeitlupe analysiert werden, um die genaue Abfolge der Ereignisse zu ermitteln. Dabei wird deutlich, wie mühsam und zeitintensiv die Suche nach der Wahrheit im Spannungsfeld von institutionellem Druck und öffentlicher Erwartung ist.
Moll interessiert sich nicht für Sensationalismus, sondern für die stille, oft zermürbende Arbeit hinter der Aufklärung eines Falls. In „Dossier 137“ steht die Polizeigewalt nicht nur als isolierter Exzess im Fokus, sondern als Symptom eines tiefer liegenden strukturellen Problems: der gegenseitigen Abschottung und Solidarisierung innerhalb des Sicherheitsapparats. Moll zeichnet das Bild eines Systems, in dem die Grenze zwischen Täter und Beschützer verschwimmt – jene Beamten, die mit unverhältnismäßiger Härte gegen Demonstranten vorgingen, werden im internen Diskurs nicht etwa kritisiert, sondern als Verteidiger der öffentlichen Ordnung gefeiert. Diese kollektive Heroisierung erschwert die juristische Aufarbeitung massiv – so sehr, dass auch die leitende Ermittlerin bereit ist, Grenzen zu missachten.
„Sirāt“: eine spirituelle Odyssee
Der französisch-spanische Regisseur Óliver Laxe, dessen Werke sich überwiegend durch eine poetische Erzählweise und eine tiefe spirituelle Dimension auszeichnen, hat es mit „Sirāt“ ebenfalls in den Wettbewerb in Cannes geschafft. Seine Filme sind oft in abgelegenen, von Natur geprägten Gegenden angesiedelt und zeichnen sich durch reduzierte Dialoge, meditative Bilder und eine intensive Auseinandersetzung mit Stille, Licht und Bewegung aus. Laxe arbeitet bevorzugt mit Laiendarstellern und nutzt reale Umgebungen, um Authentizität und emotionale Tiefe zu erzeugen. In seinem neuesten Film „Sirāt“ verknüpft er erneut äußere Reise und inneres Erleben.
Inspiriert von der islamischen Vorstellung des „Sirāt“-Brückenwegs zwischen Himmel und Hölle, begleitet der Film einen Vater und seinen Sohn auf der Suche nach der verschwundenen Tochter durch die Landschaften Marokkos – eine physische Odyssee, die zunehmend zu einem spirituellen Reifungsprozess wird. Laxe bleibt seiner reduzierten Ästhetik treu, nutzt 16-mm-Film und eine nahezu sakrale Lichtführung, um eine mystische, politische und existenziell aufgeladene Bildsprache zu schaffen. Wie in seinen früheren Werken steht das Verhältnis von Mensch, Natur und Erinnerung im Zentrum einer Kinoerfahrung, die zunehmend meditative Züge annimmt und sich bewusst der Geschwindigkeit des konventionellen Erzählkinos entzieht.
„Eddington“: Kino als Anti-Mythos-Maschine
Mit „Eddington“ ist Ari Aster mit einem Film an der Schnittstelle zwischen psychologischem Horror und düsterem Neo-Western in Cannes erstmals vertreten. Erzählt wird die Geschichte von Sheriff Joe Cross (Joaquin Phoenix), der sich weigert, im örtlichen Supermarkt eine Maske zu tragen – ein Akt des Protests, der nicht nur einen öffentlichen Skandal auslöst, sondern auch eine politische Dynamik entfacht. Cross entscheidet sich, gegen den amtierenden Bürgermeister Ted Garcia (Pedro Pascal) zu kandidieren, einen technokratischen Liberalen mit einer gemeinsamen Vergangenheit mit Joes Ehefrau Louise (Emma Stone). Inmitten familiärer Spannungen, eines eskalierenden Informationskriegs und schließlich eines mysteriösen Mordfalls, beginnt die kleine Stadt Eddington in New Mexico, auseinanderzubrechen.
Der Film spielt im Mai 2020 und ist damit tief in den Kontext der Covid-19-Pandemie eingebettet. Aster nutzt nach „Hereditary“, „Midsommar“ und „Beau Is Afraid“ auch hier wieder das allegorische Erzählen. Mit „Eddington“ verknüpft er den psychologischen Horror mit den Genrecodes des Westernfilms und entwirft ein poröses Gesellschaftsbild – nicht als naturalistisches Porträt, sondern als symbolisch aufgeladenes, hochgradig stilisiertes Spiegelbild eines gespaltenen Amerikas. Formal verbindet „Eddington“ klassische Westernmotive – etwa den determinierten Einzelgänger, die enge Gemeinschaft, das drohende Chaos – mit gegenwärtigen politischen Konfliktlinien. Die Kleinstadt wird zum Mikrokosmos einer zersplitterten Gesellschaft, in der es weniger darum geht, ob dieses Pulverfass explodiert, sondern wann. Die Handlung wird getragen von der Spannung zwischen persönlichem Trauma, politischem Kalkül und kollektiver Paranoia.
Just post it. Don’t make me think.
Sheriff Joe, einst moralische Instanz, wird zum Symbol des Kontrollverlusts: Er vertuscht gemeinsam mit einem desinformierten Hilfssheriff einen Mord. Politische Polarisierung, die Macht von Social Media, der Zerfall des öffentlichen Diskurses und die psychischen Belastungen einer verunsicherten Gesellschaft prägen „Eddington“ thematisch. In den hitzigen Debatten der Filmfiguren dominiert ein aggressiv geführter Diskurs. Der Zuschauer erlebt, wie sprachliche Eskalation zur Selbstverständlichkeit wird – sachliche Auseinandersetzung ist längst obsolet. Dabei spielt der Film auch mit zeitgenössischen Schlagworten, die als Markierungen gesellschaftlicher Bruchlinien dienen: Bitcoin, Hyperscale-Datacenter, Second Amendment, Black Lives Matter, White Supremacy. Smartphones fungieren als „neue Waffen“ des digitalen Westens – jeder Konflikt wird medial vermittelt, jeder Gedanke sofort „Content“. „Just post it. Don’t make me think“, heißt es an einer Stelle – eine Diagnose unserer Gegenwart.
Der Verweis auf John Fords „Young Mr. Lincoln“ (1939) funktioniert dann als ironischer Kontrapunkt. Fords Film, entstanden kurz vor dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, beschwor damals noch amerikanische Ideale und moralische Führung. In „Eddington“ hingegen wird dieser Mythos als leere Hülle enttarnt – die Figuren agieren aus Angst, Groll oder Opportunismus. Kino wird hier zur Anti-Mythos-Maschine, zur kritischen Dekonstruktion amerikanischer Selbstbilder. Die Kleinstadt Eddington ist kein Ort – sie ist ein Zustand.
De Maart
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