Freitag14. November 2025

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InterviewGeraubtes jüdisches Eigentum im Zweiten Weltkrieg: Luxemburg hat Nachholbedarf

Interview / Geraubtes jüdisches Eigentum im Zweiten Weltkrieg: Luxemburg hat Nachholbedarf
Auf Detektivarbeit: die Historiker Andreas Fickers (l.) und Denis Scuto vom Centre for Contemporary and Digital History (C2DH) Foto: Editpress/Hervé Montaigu

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Während des Zweiten Weltkriegs wurde in Luxemburg massenhaft jüdischer Besitz geraubt, von Bankkonten, Gemälden über Bücher bis hin zu Möbeln. Zum Start ihrer Tageblatt-Serie sprechen die beiden Forscher Andreas Fickers und Denis Scuto über historische Detektivarbeit, Ausraubung durch die deutschen Besatzer und situativen Opportunismus von Luxemburgern.

Tageblatt: Um was geht es bei Ihrem aktuellen Projekt?

Andreas Fickers: Unser Projekt wurde initiiert durch das Abkommen zwischen dem Luxemburger Staat und dem „Consistoire israélite“ vom 27. Januar 2021, in dem unter anderem auch die wissenschaftliche Aufarbeitung der Spoliation (französisches Wort für Enteignung, Raub, Plünderung – Anm. d. Red.) des jüdischen Eigentums in Luxemburg unter deutscher Besatzung festgehalten wurde. Dafür wurde ein bestimmtes Budget von knapp zwei Millionen Euro definiert, das aufgeteilt wurde unter drei Partnern. Zum einen das Nationalarchiv, das finanzielle Mittel bekommt, um den Zugang zu den Akten des Nationalarchivs über den Zweiten Weltkrieg und die Shoah zu erleichtern. Zum anderen zwei wissenschaftliche Projekte: Ein Projekt zur Provenienzforschung, in dem es darum geht, einen „état des lieux“, eine Inventur, zu machen bei folgenden Kulturinstitutionen: dem „Musée national d’archéologie, d’histoire et d’art“ (MNAHA), den zwei Museen der Stadt Luxemburg (die Sammlungen der Villa Vauban – „Musée d’art de la Ville de Luxembourg“ und das Lëtzebuerg City Museum) sowie bei der Nationalbibliothek Luxemburg (BnL).

Was bedeutet das genau?

A.F.: Es geht um die Frage, ob es dort eventuell Objekte gibt, die aus solchen Enteignungen stammen. Kann man sie nachweisen? Und falls ja, soll natürlich auch eine Rückführung ermöglicht werden. An diesem Projekt arbeiten aktuell zwei Post-Doktoranden (Marc Kolakowski, Anna Jagos). Eine dritte Post-Doktorandin, Yasmina Zian, hat ebenso ein Jahr mitgearbeitet.

Denis Scuto: Bei dem zweiten wissenschaftlichen Projekt handelt es sich um drei Doktorarbeiten zur Spoliation, die wirklich noch tiefer einsteigen sollen in die Problematik, die bisher nur oberflächlich aufgearbeitet wurde. Eine erste Doktorarbeit von Jana Müller, die ich betreue, beschäftigt sich hauptsächlich mit der Frage der Entschädigung, der Restitution, den „dommages de guerre“. Zum Teil auch vergleichend, das heißt: Wie sind jüdische Personen entschädigt worden im Vergleich zu anderen Opfergruppen, etwa den Widerstandskämpfern, den Zwangsrekrutierten oder „Umgesiedelten“. Die zweite Doktorarbeit von Linda Graul, unter der Leitung von Prof. Benoît Majerus, beschäftigt sich mit der Spoliation im Finanzbereich, vor allem mit der Rolle der Banken. Eine dritte Doktorarbeit von Dan Thilman, unter der Leitung von Prof. Christoph Brüll, ist vergleichend angelegt und untersucht die Schicksale jüdischer Gemeinden in Luxemburg, Belgien (Provinz Luxemburg) und Deutschland (Saarland und Rheinland-Pfalz).

Raubkunst ist seit einigen Jahren ein wichtiges Thema, das immer mehr Aufmerksamkeit bekommt, vor allem auch in Deutschland. Hat Luxemburg in dieser Hinsicht etwas aufzuholen?

A.F.: 2009 wurde der sogenannte „Dostert-Rapport“ veröffentlicht, der sich erstmals mit der Thematik der Spoliation und, aber nur am Rande, der Raubkunst beschäftigt hat. Heute sind Fragen von Restitution international wieder von großer Aktualität, gerade im Zuge der Dekolonialisierungsdebatte, weniger im Kontext des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts. Aber hier hat Luxemburg mit Sicherheit Nachholbedarf. Deswegen sind wir auch dankbar, dass Grundlagenforschung zu diesem Thema gezielt in die Vereinbarung hineingeschrieben wurde. Wir haben im ersten Jahr des Projekts in enger Zusammenarbeit mit den Kulturinstitutionen einen „état des lieux“ aufstellen können – mit interessanten Pisten für die zukünftige Forschung, wo es dann wirklich um Provenienzforschung im Detail gehen wird.

Das heißt, es gibt zum aktuellen Zeitpunkt aber noch keine gesicherten Erkenntnisse, dass es in den Museen Werke gibt, die einst aus jüdischem Besitz geraubt wurden?

A.F.: Wir haben jetzt in diesem vorläufigen Bericht schon einige Hinweise auf Objekte, die mit großer Wahrscheinlichkeit als „Raubkunst“ gedeutet werden können. Nun wird es darum gehen, Provenienzforschung zu diesen einzelnen Objekten zu betreiben und zu klären, wie und unter welchen legalen Bedingungen diese Objekte in den Besitz der Institutionen gelangt sind. Das ist wirklich Detektivarbeit.

Sind Sie auf bei Ihrer Arbeit auf besonders eindrückliche Fälle gestoßen?

D.S.: Zur Provenienzforschung können wir noch keine Resultate veröffentlichen. Wir arbeiten aber auch seit 2021 an einem digitalen „Mémorial“ zur Shoah, wo wir eine ganze Reihe Biografien, fast 150 sind es mittlerweile, online einsehbar machen (memorialshoah.lu). Das sind Familienbiografien. Dort begegnen wir immer wieder interessanten Fällen von Ausraubung: Lili Deutsch, die mit dem 1928 verstorbenen AEG-Vorstandsvorsitzenden Felix Deutsch verheiratet war, und die zwar nicht nach Luxemburg geflüchtet ist, aber einen Container voller Kunstgegenstände und Möbel in Luxemburg hinterlegt hat. Lily Deutsch selbst ist vor den Nationalsozialisten mit ihrer Tochter Gertrud und ihrem Schwiegersohn, dem bekannten deutschen Dirigenten und Komponisten Gustav Brecher, weiter nach Belgien geflüchtet, der Container blieb in Luxemburg. Da stellt sich die Frage, was aus diesen Objekten geworden ist.

In Ihrer Artikelserie, die heute im Tageblatt startet, werden Sie auch die Geschichte der Familie Gelber erzählen.

D.S.: Diese Familie kam ursprünglich aus Polen und ist schon Anfang der Zwanzigerjahre über Deutschland nach Luxemburg eingewandert, wo sie in der Stadt in der Avenue de la Gare ein Schuhgeschäft eröffnete. Der Mann, Benjamin Gelber, stirbt schon in den Dreißigern, seine Frau Bronia Gelber geb. Springut und seine Tochter Lily überleben mehrere Konzentrationslager. Sie werden am 16. Oktober 1941 mit dem ersten Deportationszug von Luxemburg ins Ghetto Litzmannstadt, das heutige Lodz, verschleppt, danach nach Auschwitz, Birkenau, Bromlitz, Bergen-Belsen und Elsnig. Sie überleben, kommen zurück nach Luxemburg und alles ist weg. Ihre Wohnung ist leer. Wir erzählen die Geschichte eines Gemäldes, das sie nur mithilfe eines Fotos, auf dem es in ihrem Esszimmer bei einer privaten Feier 1939/40 im Hintergrund zu sehen ist, als ihr Eigentum nachweisen können. Geraubt haben es keine Nazis, sondern die Nachbarn. Eine unserer Forscherinnen, Blandine Landau, hat in ihrer Doktorarbeit die These aufgestellt, dass es in Luxemburg einen Kunstmarkt gab, vor allem auch während des Kriegs, zwischen Paris, Luxemburg, Brüssel und Deutschland. Ein weites Feld, das noch genauer untersucht werden muss, wo wir aber einige Erkenntnisse aus der Doktorarbeit Blandine Landaus in der Artikelserie vorstellen werden.

Ein illegaler Kunsthandel?

A.F.: Das Problem ist ja gerade, dass sich diese „Geschäfte“ in einem legalen Rahmen bewegen. Aber dieser legale Rahmen waren natürlich die Gesetzgebungen und Verordnungen, welche durch die deutsche Besatzung und De-facto-Annexion zustande kamen. In diesem juristischen Kontext fanden Enteignungen statt, Käufe wurden geregelt und Notare haben diese validiert.

Es geht hier nicht nur um Nazis, die Gemälde geraubt haben?

A.F.: Absolut. Es geht hier auch nicht nur um Kunstobjekte. Der größte Teil der spoliierten Eigentümer waren Möbel. Jüdische Familien mussten ihre Wohnungen verlassen, durften kaum etwas mitnehmen. Dieses Mobiliar landete auf dem lokalen Markt – wenn überhaupt. Es gab auch nationalsozialistische Funktionsträger, die sich einfach bedient haben. Im Kontext der Forschung muss also gezielt die Frage gestellt werden, wer von den Enteignungen profitiert hat? Das waren nicht nur die Besatzer. Es gab wie überall in den besetzten Gebieten in Europa ganz klar auch situativen Opportunismus vonseiten der Luxemburger Bevölkerung. Das quellentechnisch nachzuvollziehen, bleibt allerdings eine Herausforderung.

D.S.: Der Dostert-Bericht hat damals einen globalen Überblick gegeben und versucht, die generelle Bedeutung der Spoliation zu erfassen. Es geht schließlich um Millionen von Reichsmark an Wert. Heute versuchen wir, die komplexen Prozesse und Mechanismen der Spoliation nachzuvollziehen. Opportunisten, klar: Um das alles zu machen, braucht man auch Transporteure. Du brauchst Transportunternehmer. Du brauchst Schlosser, die Wohnungen aufbrechen. Du brauchst Polizisten und Gendarmen.

A.F.: Bisher hat man das immer aus der zentralstaatlichen Perspektive betrachtet, jetzt versuchen wir, mit einem mikrohistorischen Ansatz diese Prozesse in ihren einzelnen Etappen und ihrer Zeitlichkeit nachzuvollziehen. Man muss die unterschiedlichen Phasen voneinander unterscheiden. Diese erste, etwas wilde Zeit des Überfalls und der Etablierung einer entsprechenden Administration. Dann eine Phase der gezielten Erfassung jüdischen Eigentums und schließlich der kontrollierten Enteignungen, gepaart mit einer Radikalisierung der Rassenpolitik und der systematischen Ausweisung der jüdischen Bevölkerung bis zur Deportation und Ermordung. Diese unterschiedlichen Dynamiken zu rekonstruieren und festzustellen, wer die zentralen Akteure, die Profiteure, die Leidtragenden waren, ist das Ziel der Forschungsarbeit, die wir jetzt im Kollektiv leisten.

Gibt es etwas spezifisch Luxemburgisches an diesen Prozessen im Vergleich zu anderen Ländern in dieser Zeit?

A.F.: Ja, wir denken schon, dass es luxemburgische Spezifika gibt, die u.a. mit dem Wandel von der Besatzung zur De-facto-Annexion des Landes zu tun haben. In anderen Gebieten ist das anders abgelaufen. Das deutschsprachige Belgien beispielsweise wurde direkt im Mai 1940 annektiert, was andere lokale Dynamiken und Zeitlichkeiten erzeugte.

D.S.: Die vergleichende Perspektive ist für uns wichtig. Interessant ist auch der Zusammenhang mit der Germanisierungspolitik. Das Ziel der Besatzer ist ja, die Luxemburger davon zu überzeugen, dass sie Deutsche sind. Die Juden, die alles weggenommen bekommen. Alles. Ende 1943 ist alles konfisziert. Diese Güter, diese Besitztümer wurden benutzt, um Luxemburger zu kaufen. In der nationalsozialistischen Logik: Die Juden haben euch das weggenommen, wir geben es euch zurück. In Frankreich lief das nochmal anders ab, weil es einen besetzten und einen unbesetzten Teil des Landes gab. Für uns ist einerseits wichtig, dass wir am Ende einen internationalen Vergleich machen können. Andererseits wollen wir auch ein Manko in der luxemburgischen Geschichtsschreibung angehen: die jüdische Geschichte nicht getrennt von der luxemburgischen Geschichte zu betrachten, sondern als einen Teil davon.

Dieses Forscherteam ist für die neue Tageblatt-Serie zuständig: Linda Graul, Prof. Dr. Andreas Fickers, Dr. Yasmina Zian (1. Reihe v.l.), Dr. Blandine Landau, Prof. Dr. Benoît Majerus, Dr. Anna Jagos, Prof. Dr. Denis Scuto, Jana Susanne Müller, Daniel Thilman (2. Reihe v.l.). Es fehlen auf dem Foto: Ass. Prof. Dr. Christoph Brüll, Dr. Marc Kolakowski.
Dieses Forscherteam ist für die neue Tageblatt-Serie zuständig: Linda Graul, Prof. Dr. Andreas Fickers, Dr. Yasmina Zian (1. Reihe v.l.), Dr. Blandine Landau, Prof. Dr. Benoît Majerus, Dr. Anna Jagos, Prof. Dr. Denis Scuto, Jana Susanne Müller, Daniel Thilman (2. Reihe v.l.). Es fehlen auf dem Foto: Ass. Prof. Dr. Christoph Brüll, Dr. Marc Kolakowski. Foto: Editpress/Hervé Montaigu
Hottua Robert
12. November 2024 - 9.19

Die Speditionsfirma KÜHNE & NAGEL hat in ganz Europa geraubte Gegenstände, hauptsächlich Möbel, nach Deutschland gebracht, wo sie zum Teil in Massenverkäufen entsorgt wurden. Es geschah im Rahmen der von Alfred ROSENBERG geleiteten "Aktion M" (Möbel). MfG, Robert Hottua