„Wenigstens so“, „wenigstens etwas tun“, „wenigstens einer, der sich traut und offen gegen den Krieg ist“: Die Menschen stehen in der Kälte, sie tun das stundenlang, sie tun das quer durch Russland. Sie scherzen, sie diskutieren, und ihre Sätze klingen ähnlich, egal, ob in Tscheljabinsk am Ural, in Jakutsk bei knapp minus 50 Grad, in Moskau, in Tbilissi in Georgien oder in Belgrad in Serbien. Sie sagen „Putin muss weg“, „Der Krieg ist ein Fehler, wir sind gegen ihn“, „Es müssen endlich Veränderungen her“. Es sind Sätze, die lange nicht gesagt worden sind in der russischen Öffentlichkeit. Die selten so laut und deutlich ausgesprochen werden, weil Russlands repressive Gesetze dafür sorgen, dass das Wort „Krieg“ verboten ist und jegliche Kritik am russischen Überfall auf die Ukraine schnell als „Diskreditierung der russischen Armee“ geahndet wird. Warum also jetzt?
Es liegt an Boris Nadeschdin, der, wie er selbst und nicht ohne eine gewisse Großspurigkeit es nennt, das „Wunder“ vollbracht hat. Für den untersetzten 60-Jährigen „ohne Charisma“ – auch das seine eigene Beschreibung –, stellen sich derzeit Tausende von Menschen in die Schlange, weil sie in ihm einen Hoffnungsschimmer sehen, die Möglichkeit einer Alternative in einem vermeintlich monolithischen System.
Jekaterina Dunzowa darf nicht antreten

Nadeschdin will bei der Präsidentschaftswahl vom 15. bis 17. März, einer Art Volksbefragung mit festgelegtem Ausgang, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin dennoch die Stirn bieten. Die erste Hürde dafür hat der liberalpatriotische Lokalpolitiker aus einem Vorort von Moskau bereits genommen: Er darf Unterschriften für seine Kandidatur sammeln. Die Fernsehjournalistin Jekaterina Dunzowa, die ähnliche Pläne hegte und mit ähnlichen Aussagen auffiel, durfte nicht einmal das. „Sie sind noch jung, Sie haben noch alles vor sich“, hatte die Wahlkommissionsleiterin Ella Pamfilowa gesagt und Dunzowas Absichten noch im Dezember zunichtegemacht.
Jung und unbekannt ist Nadeschdin nicht. Seit den 1990ern macht er Politik, war einst Berater des 2015 ermordeten liberalen Politikers Boris Nemzow und stand auch an der Seite des loyalen Sergej Kirijenko, heute mächtiger Chef über die russische Innenpolitik im Kreml. Er macht seit Jahrzehnten Lokalpolitik, saß bis 2003 für die liberale Partei „Union der Rechten Kräfte“ in der Staatsduma, versuchte sich 2018 bei der Gouverneurswahl im Moskauer Umland und wurde Letzter. Vor der Präsidentschaftswahl 2012 wollte er noch zur Vertrauensperson Putins bestimmt werden. Heute sagt er, Putin müsse seinen Posten räumen und nennt den Krieg in der Ukraine – er sagt gesetzeskonform „militärische Spezialoperation“ – einen „fatalen Fehler Putins“.
Kein Abzug der Truppen erwähnt
Jahrelang war sich Nadeschdin nicht zu schade dafür, den Hofnarr zu geben, ließ sich von staatlichen Fernsehsendern einladen und sich dort für seine kritischen Positionen niederbrüllen. Er ging trotzdem immer wieder hin – bis er in einer Sendung im Mai 2023 forderte, Putin auszutauschen. Nun redet er vor allem in den YouTube-Sendungen der exilierten russischen Journalisten, die der russische Staat vielfach zu „ausländischen Agenten“ abgestempelt hat. Nadeschdin erzählt ihnen, dass er als Präsident alle Politgefangenen freilassen, Verhandlungen mit der Ukraine führen und die Mobilisierung einstellen werde. Vom sofortigen Abzug russischer Truppen spricht er nicht. Stattdessen wiederholt er gern, dass er „russischer Patriot“ sei und sich an die Verfassung seines Landes halten werde. Darin gelten die von Russland annektierten ukrainischen Gebiete, auch nur die teils eroberten, als russisches Territorium. „Ich fühle die Verantwortung für Millionen von Menschen“, sagt er in seinen Interviews.
Da könnte auch ein Meerschweinchen antreten, Hauptsache, es ist nicht Putin
Die geforderten 100.000 Unterschriften hat er bereits gesammelt. Wohl auch deshalb, selbst für ihn, so unerwartet schnell, weil russische Oppositionspolitiker aus dem Exil – von den Mitstreitern Alexej Nawalnys bis hin zum einstigen Ölmagnaten Michail Chodorkowski – sich für Nadeschdin ausgesprochen haben. Nicht, weil sie ihn und seine Ansichten überzeugend finden, sondern weil sie in seiner Kampagne einen legalen Protest gegen Putins Regime sehen. Die Unterschrift für Nadeschdin ist eine Stimme gegen Putin.
Das Anstehen in der Kälte ist für viele Russinnen und Russen eine Art Rettung, um nicht im politischen Stillstand zu erstarren, eine Möglichkeit in Russlands atomisierter Gesellschaft zu sehen, dass sie mit ihrer kremlkritischen Meinung nicht allein sind. Nadeschdin selbst interessiert kaum jemanden von ihnen. „Da könnte auch ein Meerschweinchen antreten, Hauptsache, es ist nicht Putin“, spottet einer. Dass Nadeschdin die nächste Hürde packt, als Kandidat registriert wird, zweifeln die meisten an, die sich für den 60-Jährigen einsetzen. Zu oft haben die Menschen bei Wahlen in Russland erlebt, wie die Wahlkommission die gesammelten Unterschriften wegen Formfehlern ablehnt. Einige halten Nadeschdin auch für eine Handpuppe des Kremls, einen Testballon, um die Proteststimmung in der Bevölkerung so kurz vor der „Wahl“ auszukundschaften. Nadeschdin selbst sagt, in gewohnt selbstgefälligem Ton: „Jetzt hat eine echte Politik angefangen.“ Auf die Frage, was er tun werde, wenn die gängigen Knüppel der Macht doch greifen und die Unterschriften abgelehnt würden, bleibt Nadeschdin derweil erstaunlich stumm.
De Maart
Diktator Putin wird das nicht dulden und ein Unfall ist schnell geschehen. Schade!