Ich, icher, am ichsten

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Narzissmus ist kein typisch weibliches oder männliches Phänomen. Bei Frauen zeigt sich die selbstsüchtige Wahrnehmung aber häufig verdeckter als bei Männern. Auch Partner und Freunde leiden unter dem Größenwahn: Oft benutzt der Narzisst sie nur zur Bestätigung.

Protzen, angeben, zeigen, dass man besser ist: Dieses Verhalten wird immer gern Männern zugeschrieben. Doch es gibt auch die Form des weiblichen Narzissmus. Dieser sei eher verdeckt und zeige sich in Perfektionismus, Leistungsdruck und einem extremen Schönheitsideal, sagt die Münchener Psychotherapeutin und Buchautorin Bärbel Wardetzki.

Während narzisstische Männer sich meist als grandios empfinden, schwanken Frauen häufig in ihrem Selbstwert hin und her zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplexen. Der Kern des männlich-offenen und weiblich-verdeckten Narzissmus sei aber gleich: Das ganze Leben dreht sich nur um die eigene Person.

Jenseits des Selbstvertrauens

„Ich, icher, am ichsten“, beschreibt der österreichische Psychiatrie-Chefarzt Reinhard Haller das narzisstische Credo. „Ein normales Maß an Narzissmus, das jeder braucht, um ein gesundes Selbstvertrauen zu entwickeln, wird weit überschritten,“ sagt der Leiter des Vorarlberger Behandlungszentrums für Suchtkranke.

Klassische Merkmale sind Egozentrismus, Eigennutz, Überschätzung der eigenen Person und kritiklose Überzeugung von der eigenen Großartigkeit. „Der Narzisst braucht den Applaus wie ein Süchtiger die Droge“, erklärt Haller. Deshalb sollte man dem Narzissten als Freund oder Partner das Lob nicht komplett entziehen, sondern dosiert und authentisch austeilen.

Wie komme ich an?

„Narzisstische Frauen fahren ständig ihre Antennen aus, um herauszubekommen, wie sie gut ankommen können“, beschreibt Bärbel Wardetzki. Wenn ihnen ihr Auftritt gelinge, fühlten sie sich als die Tollsten, die Besten, die Schönsten. „Sie denken, dass sie nur gemocht werden, wenn sie etwas Besonderes sind.“ Die äußere Fassade sei ihnen extrem wichtig. Schönheit, Schlankheit, Jugendlichkeit – alles müsse perfekt sein.

Dieses Gefühl schlage jedoch schnell um in Minderwertigkeit, wenn sie nicht bestätigt werden oder sogar Kritik ernten. Folge: Der gesamte Selbstwert breche zusammen. Der unstillbare Hunger nach Anerkennung werde oft auch mit Essattacken kompensiert. Deshalb trifft Wardetzki in ihrer Praxis auf besonders viele essgestörte, bulimische Narzisstinnen.

Ehrlichkeit als Gegenmittel

Letztlich sei ehrlich gemeintes Interesse von Freunden, Partnern oder Therapeuten das Gegenmittel zum Narzissmus, meint Psychotherapeutin Wardetzki. Es gehe beispielsweise darum, der übereitlen oder überperfekten Freundin deutlich zu machen: „Ich mag dich, so wie du bist – und nicht dafür, was du leistest oder wie du aussiehst.“

Das Dilemma: Oftmals interessiere sich ein Narzisst gar nicht wirklich für die andere Person. Nähe wird eher abgelehnt, weil dadurch die Gefahr besteht, dass jemand hinter die Fassade blickt.

Schwieriges Zusammenleben

„Das Zusammenleben mit Narzissten ist sehr anstrengend“, sagt Psychiater Haller. „Sie pressen Anerkennung und Lob aus einem heraus, für sie ist der Mitmensch ein Instrument.“ Manchmal sei es daher am besten, einen großen Bogen um solche Menschen zu machen.

Auch am Arbeitsplatz wollen Narzissten brillieren: Teamarbeit ist ein Fremdwort. Nicht selten sind sie mit ihrem extremen Leistungsbedürfnis in Führungspositionen zu finden, sagt Hans-Werner Bierhoff, Professor für Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum.

Keine Sozialkompetenz

Sozialkompetenz und Einfühlungsvermögen gehören nicht zu ihrem Profil. Im Gegenteil. „Narzissten entwerten gerne andere, um sich selbst besser zu fühlen.“ Weil der Narzisst dazu neige, sein Gegenüber auszubeuten, rät Bierhoff zur Distanz. Andererseits könne es für einen Narzissten oder eine Narzisstin eine Chance sein, an einen nicht-narzisstischen Chef zu geraten, meint Wardetzki. „Von ihm kann man lernen, wie man Wissen teilt, wie man Menschen für Projekte gewinnt und auch die Leistung von anderen anerkennt – nicht nur die eigene.“

Für Mitmenschen sei es oft hilfreich, zu verstehen, was hinter der narzisstischen Fassade steckt. Meist entwickelten sie sich aus verwöhnten oder vernachlässigten Kindern, erklärt Sozialpsychiater Bierhoff. Wenn jemand wenig Liebe im Elternhaus erfahren habe, werde er sich stets auf die Suche nach Anerkennung machen. Wenn andererseits ein Kind sehr verwöhnt und überbehütet aufwächst, dann lernt es nicht, sich realistisch einzuschätzen.

Den Ball flach halten

Bierhoff empfiehlt als Narzissmus-Prophylaxe, Kinder nicht mit großartigen Erwartungen zu überziehen – nur weil ein Kind eine Eins in Mathe schreibe, gehöre es noch nicht zu den späteren Nobelpreiskandidaten. Kinder müssten dagegen lernen, zu verlieren und mit Misserfolgen umzugehen.

Insgesamt schätzt Bierhoff die Chancen als eher gering ein, dass Narzissten sich änderten. Denn meist haben die anderen ein Problem mit ihnen, sie selbst mit sich aber nicht. Beim verdeckten, weiblichen Narzissmus liegt der Fall laut Bärbel Wardetzki anders: Die Frauen würden unter ihrem schwankenden Selbstwert sehr leiden.

Sie könnten sich aus dem narzisstischen Gefängnis befreien, wenn sie zur Selbsterfahrung und Selbstreflexion bereit sind, etwa mit Hilfe eines Psychotherapeuten oder anderen Kursen. Ziel sei es, zum wahren Selbst vorzudringen – und wegzukommen von den Extremen.