/ Angst vor der Kapitalflucht
Nicht von ungefähr war die Regierung in London kürzlich öffentlichkeitswirksam mit Plänen vorgeprescht, die Steuerlast für Firmen von aktuell rund 20 auf unter 15 Prozent zu senken. Vor allem die Unsicherheit, wie sich künftig die Wirtschaftsbeziehungen mit der EU gestalten, ist Gift für ausländische Investoren. Verliert das Vereinigte Königreich den Zugang zum EU-Binnenmarkt, wäre die Insel für internationale Kapitalgeber womöglich deutlich weniger attraktiv.
„Durch den EU-Austritt werden viele Investoren ihre Investitionen in Großbritannien überdenken“, schätzt etwa der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Clemens Fuest. Es könne zu einer Kapitalflucht kommen, was aber durch die Pfund-Abwertung etwas gebremst werde. Manche seiner Kollegen sehen bereits jetzt solche Bewegungen. So hat nach Einschätzung des Chefvolkswirts des weltgrößten Kreditversicherers Euler Hermes, Ludovic Subran, Großbritannien seit Anfang 2015 bereits rund 100 Milliarden Pfund (119 Milliarden Euro) an Kapital verloren. Vieles davon könne mit anderen Faktoren begründet werden. „Ein Drittel davon bleibt nicht geklärt und das könnte mit dem Brexit-Thema zusammenhängen.“
Verhandlungen mit EU sind entscheidend
Würde der Trend anhalten, wäre dies für das Land eine schwierige Situation. Nach Ansicht von Peter Dixon, Volkswirt bei der Commerzbank in London, kommt daher den anstehenden Verhandlungen mit der EU über den künftigen Status der Wirtschaftsbeziehungen eine entscheidende Rolle zu. „Und ich erwarte, dass man auf einen signifikanten Anstieg der Kapitalströme solange warten muss, bis diese Verhandlungen abgeschlossen sind.“
Profitieren dürften nach Einschätzung von Experten Länder wie Irland. Nicht nur wegen der günstigen Steuersätze im Land könnte sich die grüne Insel als Alternative für Investoren aus dem englischsprachigen Raum anbieten. Aber auch auf dem Kontinent buhlen Zentren wie Paris, Mailand, Luxemburg oder Frankfurt bereits um lukrative Finanzgeschäfte, die möglicherweise nach dem EU-Ausstieg aus der Londoner City abwandern werden.
Das hohe Leistungsbilanzdefizit
Was Dixon und andere Ökonomen umtreibt, hat Großbritanniens Notenbank-Chef Mark Carney vor dem EU-Referendum prägnant zusammengefasst. Er warnte davor, „die Freundlichkeit von Fremden“ zu testen. Was der Bank-of-England-Chef dabei im Blick hat: Das hohe Leistungsbilanzdefizit des Landes. Großbritannien konsumiert deutlich mehr als es produziert und ist daher auf ausländisches Kapital angewiesen, um diese Lücke zu schließen. Im ersten Quartal lag das Defizit in der Leistungsbilanz bei 32,6 Milliarden Pfund – das entspricht 6,9 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes. Allein mit der Europäischen Union lag das Minus im ersten Quartal bei 29,2 Milliarden Pfund.
Ein solches Defizit muss für ein Land nicht unbedingt negativ sein – etwa wenn das Wirtschaftswachstum hoch ist und die Gewinne sprudeln. Zeigt es doch an, dass es sich für Investoren lohnt, Kapital ins Land einzubringen. Doch was passiert, wenn die Konjunktur ins Stottern gerät und die Kapitalrenditen sinken? Genau das erwarten jetzt viele Experten nach dem überraschenden Brexit-Votum. So gehen die Volkswirte der US-Investmentbank Goldman Sachs davon aus, dass das Vereinigte Königreich bis Anfang 2017 in eine Rezession abgleitet. Die Ökonomen der italienischen Großbank UniCredit prognostizieren für 2017 ein Jahr der Stagnation auf der Insel. Zuvor hatten sie dem Land noch ein Wirtschaftswachstum von 2,1 Prozent zugetraut.
Das britische Pfund war bis zu 14 Prozent eingebrochen
Nach Einschätzung von Ifo-Chef Fuest wird die Kapitalflucht allerdings dadurch gebremst, dass das britische Pfund im Zuge des Brexit-Votums deutlich abgewertet hat. So brach der Kurs der Landeswährung zum Dollar seit dem 23. Juni in der Spitze um knapp 14 Prozent ein. Fuest zufolge sind dadurch Anlagen in Großbritannien bereits wieder interessanter geworden. „Gleichzeitig führt der niedrigere Pfund-Kurs auf der Güterseite dazu, dass britische Exporte preislich wettbewerbsfähiger werden und Importe nach Großbritannien teurer.“ Das werde das Außenhandelsdefizit verringern, schätzt der Experte.
Commerzbank-Volkswirt Dixon rechnet sogar auf längere Sicht mit einer Gegenbewegung in Richtung des britischen Marktes. „Der gegenwärtige Abrutsch der Währung könnte am Ende eine gute Nachricht für all diejenigen sein, die momentan nicht investiert sind.“ Es sei wahrscheinlich, dass am Ende der Verhandlungen mit der EU das britische Pfund immer noch vergleichweise niedrig liege. Großbritannien sei dann attraktiv für Investoren – Schnäppchenjäger würden an den Markt zurückkommen: „Sie müssen keine großen Erträge machen, sie müssen nur sehen, dass die Währung leicht anzieht und dann beginnen sie zu profitieren.“
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