„Es ist die Gerechtigkeit, die mich fasziniert“

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Die lange Schiedsrichterkarriere von Alain Hamer nahm am Sonntagabend um 22.15 Uhr im Brüsseler Constant Vanden Stock Stadium ihr Ende. Kurz nach Spielende gestattete der Unparteiische dem Tageblatt ein Exklusiv-Interview.

Tageblatt: Das waren Ihre letzten 90 Minuten. Beschreiben Sie doch bitte Ihre Gefühlslage während der Partie.

Alain Hamer: „Ich habe jede einzelne Minute genossen. Bei der Routinearbeit vor dem Spiel und natürlich auch auf dem Platz. Es war ein schönes Abschiedsspiel und es ist toll, dass später positiv über uns geredet wird.“

„T“: Gab es direkt nach Spielende Reaktionen?

A.H.: „Ja, der UEFA-Beobachter hat uns eine gute Leistung bescheinigt. Außerdem haben der RSC Anderlecht und Lierse SK uns ein Abschiedsgeschenk überreicht.“

„T“: Überwiegt die Freude, einen gelungenen Abschied zu feiern oder die Trauer, nie mehr das Feld als Schiedsrichter betreten zu können?

A.H.: „Ich bin schon traurig. Insgesamt überwiegt aber die Zufriedenheit.“

„T“: Sie sind bereits seit 17 Jahren FIFA-Schiedsrichter. Wie sind Sie eigentlich zum Fußball gekommen?

A.H.: „Früher hat mich Fußball wenig interessiert. Durch einen Freund habe ich mit 15 Jahren das Spiel für mich entdeckt. Er hat mich quasi dazu gezwungen, in der Straße mit ihm zu kicken. Kurz darauf habe ich meine erste Lizenz beim CS Petingen gemacht. Ich habe jedoch sehr schnell festgestellt, dass ich talentfrei bin. Um dem Fußball treu zu bleiben, habe ich mich als 16-Jähriger entschieden, Unparteiischer zu werden.“

„T“: Also haben Sie in dieser kurzen Zeit als aktiver Fußballer eine große Leidenschaft für diesen Sport entwickelt?

A.H.: „Ja, absolut. Das Schiedsrichterwesen hat mich jedoch von Anfang an mehr begeistert als das Spiel an sich. Diese Aufgabe war eigentlich wie geschaffen für mich, das ist mir erst im Nachhinein bewusst geworden.“

Weltweit jüngster FIFA-Schiedsrichter

„T“: Wie verlief ab dann Ihre Laufbahn?

A.H.: „Ich musste ein Jahr warten, bevor ich die Kurse besuchen konnte. Damals durfte man erst mit 16 Jahren Unparteiischer werden. Ich habe die Wochen gezählt bis zu meinem 16. Geburtstag. Ich war richtig motiviert, die Kurse zu belegen. Kurz darauf habe ich ein Scolaires-Spiel in Niederkorn gepfiffen. Ich hatte das Gefühl, als würde ich gegen 22 Gegner antreten. Doch die Leidenschaft war entfacht. Nach und nach habe ich mich hochgearbeitet, bis ich 1993 zum damals weltweit jüngsten FIFA-Schiedsrichter ernannt wurde.“

„T“: Warum fasziniert Sie die Aufgabe eines Schiedsrichters mehr als die Rolle des Spielers?

A.H.: „Es ist die Gerechtigkeit, die mich fasziniert. Noch heute schaue ich mir mit Vorliebe Justizfilme an. Ich bin ein Mensch, der für Gerechtigkeit steht. Diese Leidenschaft kann ich als Schiedsrichter ausleben. Natürlich bin ich mir bewusst, dass ich es nicht jedem recht gemacht habe. Doch innerlich habe ich versucht, immer gerecht zu sein.“

„T“: Warum sind Sie nicht Anwalt geworden?

A.H.: „Dafür habe ich nicht das richtige Studium absolviert. Jeder hat einen Traumberuf und bei vielen erfüllt sich dieser Wunsch nicht. Trotzdem bin ich heute zufrieden in meinem Beruf.“

„T“: Spieler bereiten sich mit gezieltem taktischem und physischem Training auf Spiele vor. Wie kann man sich diese Vorbereitung bei Ihnen vorstellen?

A.H.: „Es gibt keine speziellen Techniken, ich habe die Spiele immer auf mich zukommen lassen. Ich habe jedoch immer viel Wert auf meine physische Kondition gelegt. Das war schon damals als Teenager so. Meine Freunde sind ausgegangen und ich habe mich auf das Spiel vorbereitet. Auch wenn es nur eine Partie auf unterklassigem Niveau war. Meine Devise lautete immer: ‚Serieux bleiwen.‘ Ich habe auf viel verzichtet, aber wenn ich jetzt meine Karriere Revue passieren lasse, bereue ich diese Entscheidung nicht.“

Einen Makel

„T“: Trotz vieler internationaler Auftritte hat Ihre Karriere einen Makel. Sie durften nie als erster Schiedsrichter an einer Welt- oder Europameisterschaft teilnehmen.

A.H.: „Leider durfte ich nur als vierter Schiedsrichter an der Europameisterschaft teilnehmen. Bis heute habe ich es nicht verdaut, dass ich kurz vor der WM 2006 in Deutschland von der Schiedsrichterliste gestrichen wurde. Ich habe jedes Auswahlverfahren bestanden und wurde am Ende aus politischen Gründen nicht berufen. Ich weiß, dass alle meine Tests und Bewertungen sehr positiv waren, deshalb hatte meine Nichtberufung keine sportlichen Gründe. Ich bin Schiedsrichtern begegnet, die während der verschiedenen Prüfungen versagt haben und trotzdem bei der Weltmeisterschaft dabei waren.“

„T“: Hatten Sie das Gefühl, zu wenig Unterstützung bekommen zu haben? Hätte die FLF mehr tun können?

A.H.: „Es hat nie eine Person sich richtig für mich eingesetzt. Der nationale Fußballverband hat auch nur eine sehr begrenzte Macht. Als kleiner Verband hat man es schwer in Europa, deshalb richte ich auch keine Vorwürfe gegen die FLF. Henri Roemer hätte damals als Mitglied des Exekutivkomitees der UEFA etwas bewirken können, doch leider hat er sein Mandat nicht zu Ende geführt.“

„T“: In den letzten Wochen und Monaten standen in Luxemburg Ihre Schiedsrichterkollegen im Kreuzfeuer der Kritik. Sie haben sich bewusst aus dieser Problematik rausgehalten. Warum?

A.H.: „Die Art und Weise, wie die Gespräche geführt wurden, und das Gedankengut verschiedener Kollegen haben mir nicht gefallen. Ich bin der Meinung, dass ein Streik die allerletzte Alternative ist. Es hätten erweiterte Gespräche geführt werden müssen. Außerdem gab es keine klare Linie. Es gab zu viele unterschiedliche Meinungen.“

„T“: Ist der Respekt auf Luxemburgs Spielfeldern weniger geworden?

A.H.: „Der Respekt ist nicht mehr da. In den 90er-Jahren war das anders. Das hat aber nicht unbedingt etwas mit Fußball zu tun, sondern ist eher auf soziale Veränderungen zurückzuführen.“

„T“: Tragen die Unparteiischen eine Teilschuld? Oft wird die Überheblichkeit der Männer in Gelb angeprangert.

A.H.: „Da stimme ich zu. Auch mir wurde als junger Schiedsrichter Arroganz unterstellt. Dem war aber nicht so, ich hatte halt nur eine strenge Linie. Mir fällt auf, dass viele junge Schiedsrichter heute sehr überheblich gegenüber Spielern und Vereinsdirigenten auftreten. Mit der Macht als Unparteiischer muss man umgehen können. Es gibt viele Schiedsrichter, die denken, sie könnten damit umgehen, dabei fallen sie total aus der Rolle.“

Schiedsrichterausbildung in Luxemburg

„T“: Was muss sich an der Schiedsrichterausbildung in Luxemburg ändern? Befindet sich der Verband auf dem richtigen Weg?

A.H.: „Ganz klar nein. Es muss sich einiges ändern. Unsere Top-Schiedsrichter müssen sich vorbereiten wie Bundesliga-Schiedsrichter. Der Zeitaufwand ist riesig und die Entschädigung gering. Wir müssen uns den heutigen Gegebenheiten anpassen, auch finanziell. Es kann nicht sein, dass ein Unparteiischer auf dem höchsten luxemburgischen Niveau, der viele Tests mitmachen muss und jedes Wochenende der Kritik der Medien ausgesetzt ist, nur unwesentlich mehr verdient als ein Schiedsrichter, der in den untersten Divisionen pfeift. Außerdem müssen die Schiedsrichter und Assistenten von einem professionellen Manager betreut werden.“

„T“: Bleiben Sie dem Luxemburger Fußball in irgendeiner Funktion erhalten?

A.H.: „Das hängt davon ab, wie mein Verband reagiert. Ich war während Jahren das Aushängeschild des Luxemburger Schiedsrichterwesens, davon wurde profitiert und meiner Meinung nach sollten wir auch in Zukunft daraus Vorteile ziehen. Es gab bereits Gespräche mit der FLF. ‚Et ass awer ganz kloer, dass ech net wäert den Hampelmännche sinn.‘ Irgendwann will ich eine nach außen anerkannte Position bekleiden und weiter Botschafter des Luxemburger Fußballs bleiben.“

„T“: Als Schiedsrichter ist man oft den Beschimpfungen der Zuschauer ausgesetzt. Hört man diese nach all den Jahren überhaupt noch?

A.H.: „Wenn ich auf dem Platz stehe, bekomme ich davon nichts mit. Die Worte prallen wie Kugeln an einer kugelsicheren Weste an mir ab. Vor allem international lässt sich das gut verkraften. Schlimmer ist es jedoch, wenn man in Luxemburg vor 120 Zuschauern persönlich attackiert wird. Das tut weh.“

Homosexualität

„T“: Sie haben sich vor Jahren zu Ihrer Homosexualität bekannt. In der Männerwelt Fußball eine Ausnahme. Werden Sie oft damit konfrontiert?

A.H.: „Homosexualität ist noch immer ein Tabu. Nach und nach outen sich aber immer wieder Fußballer. Noch immer haben viele Spieler und Schiedsrichter Angst. Auch in Luxemburg gibt es homosexuelle Spieler und Schiedsrichter. Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er das nach außen tragen will. Ich habe jahrelang das Thema verdrängt und es hat mich auch belastet. Privatleben und Schiedsrichterwesen habe ich immer streng getrennt. Irgendwann habe ich mich für ein offizielles ‚Coming-out‘ entschieden.“