Zeitenwende

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Claude Wiseler hat einen schweren Stand. Als Spitzenkandidat der CSV trat er die Nachfolge eines Jean-Claude Juncker an, der bis zum Schluss, trotz SREL-Affäre, extrem hohe Zustimmungswerte einfuhr.

Mit Claude Wiseler muss die CSV kleinere Brötchen backen. Die positiven Umfragen, die die Partei bereits als Wahlgewinnerin sehen, können nicht darüber hinwegtäuschen: Wiseler ist noch kein Juncker.

Während Letzterer wie ein Superstar Kultur- und Vereinshäuser bis auf den letzten Platz füllte, muss sich Wiseler mit der bitteren Wirklichkeit abfinden, die auch andere Parteien seit Jahren erleben müssen. Wahlversammlungen wie zuletzt die „CSV-Fraktioun on Tour“ von Montagabend in Mersch locken nur wenige Sympathisanten an. Und wenn, dann hauptsächlich ältere Semester.

Wiseler muss man zugute halten, dass er im Unterschied zu seinem Vorgänger als Spitzenkandidat von Amts wegen weit weniger stark im Rampenlicht stand. Obwohl er seit 2004 bis 2013 zwei CSV-LSAP-Regierungen angehörte: Minister für den Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform von 2004 bis 2009, Superminister für Umwelt, Transport, nachhaltige Entwicklung und öffentliche Bauten bis 2013. Juncker saß seinerseits ununterbrochen seit 1982 in der Regierung, zuerst als Staatssekretär, dann als Minister und ab 1995 als Staatsminister. Der Durchstart gelang ihm erst, nachdem Jacques Santer ihm das Staatsministerium überließ, als dieser nach Brüssel zum Vorsitzenden der EU-Kommission berufen worden war.

Langjährige Regierungszugehörigkeit allein garantiert demnach keine Popularitätshöhepunkte. Stil, Ausdrucksweise, Umgang mit den Menschen spielen wenn nicht eine ausschlaggebende, so doch eine große Rolle. Und hier unterscheiden sich die beiden christlich-sozialen Politiker grundlegend.

18 Jahre an der Spitze der Regierung, aber auch sein Lebenswandel haben schon lange ihre Spuren bei Juncker hinterlassen. Seiner Popularität hat das nicht geschadet. Bedächtig, schwerfällig bewegt er sich vor den Kameras. Seine Vorliebe für physischen Kontakt mit den Großen dieser Welt ist legendär. Wer erinnert sich nicht an den freundschaftlichen Klaps auf Silvio Berlusconis Glatze, damals noch italienischer Premierminister?
In seinen Glanzzeiten konnte Juncker die Zuhörer in seinen Bann ziehen, die Journalisten mit seinen Schachtelsätzen zur Verzweiflung bringen. Seine Spezialität: das eine und später das genaue Gegenteil zu sagen, was es ihm ermöglichte, sich in kritischen Situationen herauszureden.

Dass der Sozialdialog auf Landesebene trotz unversöhnlich erscheinenden Positionen immer wieder aufleben konnte, ist auch dem konzilianten Umgangston zu verdanken, den Juncker mit den Sozialpartnern, insbesondere den Gewerkschaften, fand. So dass Letztere sich bisweilen den Vorwurf anhören mussten, sie seien Juncker auf den Leim gegangen.
Von alldem ist bei Claude Wiseler wenig vorhanden. Seine Berufsausbildung – Wiseler hat Literaturwissenschaften studiert und war mehrere Jahre lang Sprachlehrer – färbt auf seine Umgangsformen ab. Geduldig hört er seinem Gegenüber zu, bemüht sich, Sachverhalte klar und deutlich zu erklären, so dass auch der Letzte zu verstehen glaubt, was der Politiker meint.

Während man Juncker in Luxemburg zuletzt übel gelaunt, griesgrämig dreinblickend und nuschelnd erlebte, könnte man Wiselers Lächeln als dessen Markenzeichen vermarkten. Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Mann auch zubeißen kann. Wie er dies zuletzt bei seinem Face-à-Face mit Staatsminister Xavier Bettel auf RTL Télé im Anschluss an die Erklärung zur Lage des Landes gezeigt hat.

Als Spitzenkandidat muss sich Wiseler bei den Wahlen noch beweisen. Doch allein durch sein Auftreten verkörpert er rein äußerlich das Renouveau seiner Partei: smart, sportlich, stets lächelnd – der Politikertyp, wie wir ihn von anderen europäischen Ländern her kennen, auch wenn es für einen Vergleich mit beispielsweise einem Macron nicht reicht.
Juncker, nicht nur der Politiker, sondern auch der Politikstil, ist definitiv Vergangenheit. Und womöglich auch viele seiner langjährigen, in die Jahre gekommenen Kampfgefährten und -gefährtinnen.


Zurück in die Wirklichkeit

Ein Juncker fällt nicht vom Himmel und CSV on Tour ist längst nicht Juncker on Tour. Wahlveranstaltungen der CSV erleiden dasselbe Schicksal wie jene der politischen Konkurrenz: eine begrenzte Zuhörerschaft.

Knapp fünf Dutzend, meist ältere Personen sitzen an diesem Abend in Gruppen an den Tischen im Festsaal der Nic.-Welter-Schule in Mersch. Rechnet man die Zentrumskandidaten und Parteimitarbeiter ab, bleiben nicht mehr allzu viele Neugierige, die sich an diesem Montagabend über die Vorschläge der CSV zum Wohnungsbau informieren möchten.

Brav und etwas gekünstelt erklären einzelne Abgeordnete und Kandidaten dem Stichwortgeber und Zeremonienmeister des Abends Fränk Kuffer, wie sie zur Politik kamen. Doch gekommen sind die Besucher vor allem, um Spitzenkandidat Claude Wiseler zu hören.

Man merkt es dem Kandidaten an: Er kennt seine Materie. Seine Argumente hat er in den vergangenen Monaten immer wieder dargelegt, seine Ausdrucksweise ist geschliffen.

Die Ausgangsthesen: Die aktuelle Regierung hat die guten Zeiten nicht genutzt, um die öffentliche Verschuldung abzubauen, im Gegenteil, die Schuldenlast des Staats steigt weiter. Die Politik setzt nach wie vor auf ungebremstes Wachstum. Dann der Schwenk zum Thema des Abends: Gambia hat die Versprechen, die sie zum Wohnungsbau gegeben hat, nicht eingehalten. Die CSV, die das Ressort selbst seit Jahrzehnten verantwortete, wisse, wie komplex das Dossier sei, betont Wiseler versöhnlich und schiebt nach: Willkommen in der Wirklichkeit.

Überzeugend neue Patentrezepte bietet Wiseler seinen Zuhörern an diesem Abend auch keine an. Wie die anderen Parteien möchte auch er, sollte er nach Oktober 2018 die Regierung führen, mehr und zügiger bauen lassen. Gelände müsse schneller für die Bebauung freigegeben werden. Heute dauern die Prozeduren vier bis zehn Jahre, bevor die Bagger rollen dürfen. Natürlich sollten zuerst die Baulücken in den aktuellen Allgemeinen Bebauungsplänen (PAG) gefüllt werden. Man komme aber wohl nicht an eine Erweiterung der PAG vorbei, betont Wiseler.

Allein auf das Wohlwollen von Grundstücksbesitzern will auch die CSV längst nicht mehr zählen. „Wir müssen an Gelände ran, das aus Spekulationsgründen zurückbehalten wird“, sagt der Spitzenkandidat. Gemeint ist das im zukünftigen sektoriellen Leitplan Wohnungsbau als Bauland ausgewiesene Terrain. Der Staat müsse die notwendigen Mittel bekommen. Zuerst sollte verhandelt werden. In Erwägung ziehen müsse man jedoch auch Expropriationen. Eine Einstellung, mit der die CSV auch bei LSAP punkten könnte.

Weiteres Instrument aus dem CSV-Wahlkampfkit: Höhere Taxen auf Leerstand. Die Gemeinden könnten derzeit bereits ungenutztes Bauterrain und leer stehende Wohnungen besteuern. Wegen der Nähe der Lokalpolitik zum Bürger würde diese Möglichkeit aus verständlichen Gründen kaum genutzt, sagt Wiseler. Also müsse der Staat seine Verantwortung übernehmen und Baugelände besteuern, das man aus Spekulationsgründen brachliegen lasse. Bauland, das beispielsweise Eltern für ihre Kinder angeschafft hätten, bliebe jedoch davon unberührt, beruhigt Wiseler.

Für alle, die sich trotzdem kein Eigenheim anschaffen können, würde ein zukünftiger Regierungschef Wiseler das Modell „zuerst mieten, dann kaufen“ anbieten. Die öffentliche Hand würde bauen, der Nutzer Miete zahlen und, falls er später möchte und die Mittel dazu hat, die Wohnung kaufen. Die gezahlte Miete würde dabei bei der Festlegung des Verkaufspreises angerechnet werden.

Geht es nicht etwas konkreter?

Wiselers Ausführungen folgt die Fragestunde. Mehrmals muss er auf seine zuvor geäußerten Vorstellungen zurückkommen. „Sagen Sie uns konkret, wie sie die Probleme am Wohnungsmarkt lösen wollen?“, wurde er vom ersten Fragesteller gleich frontal angegangen. Er habe doch zehn „Pisten“ angegeben, sei aber durchaus bereit, sie in Kurzform zu wiederholen, lächelt Wiseler.

Kruzialen Fragen nach Möglichkeiten, das Wachstums zu steuern, weicht er jedoch geschickt aus. „Wir brauchen Wachstum“, sagt er. Aber statt demografisches Wachstum ein durch Produktivitätsschübe erzeugtes Wachstum, betont Wiseler.

Überzeugen kann er damit nicht jedermann. Wie diesen älteren Herrn, der die Wachstumsfrage an die täglichen Autoschlangen über die Moselbrücke in Remich festmacht. Das eine Problem lasse sich ohne das andere nicht lösen, betont er. An den stets neu geschaffenen Arbeitsplätzen und den sich daraus ergebenden Pendlerströmen müsse angesetzt werden, gibt er zu verstehen. Indirekt stimmt auch der Kandidat dem zu. Deshalb müsse man alles global angehen: Wachstum, Wohnungsbau, Mobilität, sagt er.

TVA auf 3 Prozent – nichts ist ungewisser

Nicht ungehört blieb Wiselers Vorwurf an Gambia, diese habe mit der Anhebung des Mehrwertsteuersatzes für Zweitwohnungen von drei auf 17 Prozent die Probleme nicht gelöst, sondern habe sie verschärft. Ob die CSV den wieder auf drei Prozent senken werde? Wiseler ziemt sich. Darüber habe man noch nicht gesprochen. Man müsse das noch analysieren. Fraglich sei, ob die EU-Kommission dem zustimmen würde, immerhin stelle die Drei-Prozent-Klausel bereits eine Ausnahmegenehmigung für Luxemburg dar. Elegant reicht er die heiße Kartoffel an den Spezialisten der Fraktion für Wohnungsbaufragen, den „député-maire“ Marc Lies aus Hesperingen, weiter.

Die 17-Prozent-Anhebung habe sich gleich auf die Preise am Wohnungsmarkt niedergeschlagen, meint dieser. Er bezweifelt, ob eine Reduzierung des Steuersatzes zu Preisrückgängen führen würde. Einig sind sich Lies und Wiseler: Die MwSt.-Erhöhung kam den Promotoren zugute.

Grau ist alle Theorie, bunt die Wirklichkeit und mitunter nervtötend. Geduldig hört sich Wiseler an diesem Montagabend die lange Leidensgeschichte einer Dame an. Sie zu unterbrechen, wagt er nicht. Die Frau klagt über inkompetente Bürgermeister und Beamten, über Baustopps, die sie bei ihrem Projekt erleiden musste, über administrative Schikanen für Privatpersonen, während Promotoren fast alles erlaubt werde. Sogar Korruption deutet sie an. Auf den Bürgermeisterstühlen und in den Verwaltungen müssten kompetente Personen kommen, schärft sie dem CSV-Kandidaten ein.

Elegant kontert Wiseler, dass man in Luxemburg doch den Bürgermeister wähle und er auch weiterhin auf diese demokratischen Gepflogenheiten setze. Deshalb sei eine Territorialreform so wichtig, sagt er. Der CSV zufolge würden die Gemeinden in Zukunft von einem Berufsbürgermeister geführt. Das derzeitige Doppelmandat „député-maire“ würde dann der Vergangenheit angehören. 2029 wäre die Reorganisation der Gemeindelandschaft abgeschlossen. Übrig bleiben dann noch 60 Kommunen. Nationale, für alle Gemeinden wichtige Fragen könnten in einer Bürgermeisterkammer erörtert werden, die auch als Relais zum Parlament dienen würden. Größere Gemeinden als Ergebnis der Reform könnten dann auch verstärkt die benötigten Fachkräfte einstellen, argumentiert Wiseler.

Gemeindefusionen? Und das Volk, raunt ein älterer Herr, der sich dann aber nicht traut, seine Meinung laut zu sagen. Die Sorge nimmt ihm glücklicherweise eine Dame ab. Wer soll das mit den Fusionen entscheiden? Die Bürger würden sich per Referendum äußern, sagt Wiseler. Um gleich dem Vorwurf zu begegnen, Einwohner aus Süd- und Zentrumsgemeinden würden dann über Fusionen im Norden und Osten mitentscheiden, fügt Wiseler ein lokales Element hinzu. Bei den betroffenen Gemeinden könne man ja dann im Einzelfall prüfen, wie stark die Zustimmung der Bürger für ein Zusammengehen sei.

Nach mehr als zwei Stunden Diskussionen wird zum Umtrunk eingeladen. Spitzenkandidat Wiseler muss mit dem Befeuchten der trockenen Kehle noch etwas warten. Schnell schiebt er noch zwei Roll-ups mit dem CSV-Slogan beisammen die Kulisse für den Videoclip für Facebook, der gleich aufgenommen werden soll. Andere werden folgen. Mersch war die zweite der sechs Etappen zählenden CSV-Tour de Luxembourg.

Jang
11. Mai 2018 - 8.10

Waat soolen déi dooten CSV-Kandidaten alles ëmrappen, deen Herr do wor jo och mol derbei,sein Resultat wor dreimol neischt. Vill waarm Loft gëtt produzéiert.

leonie
9. Mai 2018 - 10.51

warum ist man so sicher,dass die csv als gewinner der nächsten wahlen hervorghen wird? hat herr Wiseler so gute arbeit geleistet oder hat die aktuelle regierung die bevölkerung so sehr enttäuscht. warum sollten ausgerechnet die grünen ,die doch ihre prinzipien am wenigsten durchsetzten am wenigsten geschröpt werden. Mysterium!