Sühne, keine Aussöhnung

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Von einer Annäherung sind ex-jugoslawische Kriegsgegner noch immer weit entfernt.

Das Urteil im letzten großen Prozess vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal ist gefällt. Ratko Mladic hat als Kommandant des Völkermords von Srebrenica die höchstmögliche Strafe erhalten, die er verdient: Alles andere als lebenslängliche Haft wäre angesichts der drückenden Beweislast eine Überraschung – und ein Schlag ins Gesicht der Opfer – gewesen.

Von unserem Korrespondenten Thomas Roser

Ratko Mladic hat für die in Srebrenica und bei der Belagerung von Sarajevo begangenen Verbrechen der von ihm befehligten Truppen zu sühnen. Doch von Annäherung oder einer aufrichtigen Aussöhnung scheinen die Völker des zerfallenen Jugoslawiens 22 Jahre nach Unterzeichnung des Friedensabkommens von Dayton weiter entfernt als je zuvor.

Egal ob in Bosnien, Kosovo, Kroatien oder Serbien: Jeder freigelassene oder freigesprochene Heimkehrer vom UN-Tribunal wird in seiner Heimat genauso als Held oder Märtyrer gefeiert wie verurteilte Kriegsverbrecher. Im bosnischen Pale wurde vergangenes Jahr gar ein Studentenheim nach dem wegen Genozid verurteilten Serbenführer Radovan Karadzic benannt, in Serbien ein vom UN-Tribunal verurteilter Kosovo-Kommandant nach Absitzen seiner Strafe gar zum Dozent der Militärakademie befördert.

Mit dem Hinweis auf die Opfer der eigenen Nation mühen sich Politiker und Medien in allen Nachfolgestaaten, die von Landsleuten begangenen Verbrechen kleinzureden oder zu relativieren. Fortschritte beim mühsamen Aussöhnungsprozess sind derweil kaum mehr zu erkennen, im Gegenteil. Jeder Kriegsjahrestag, jeder Wahlkampf geht in der Vielvölkerregion der unvergessenen Kriege mit neuen Nadelstichen und Vorwürfen gegen die Nachbarn gepaart: Selbstgerechtes Nachkarten und rhetorisches Kriegsgerassel scheinen in allen Staaten zum festen und populären Repertoire der Stimmenjäger zu gehören.

Bitterer Geschmack von Einseitigkeit

Die Verurteilung von Kriegsschergen der eigenen Nation tritt bei den einstigen Kriegsgegnern hingegen auf der Stelle: Selbst in Serbien, wo es lange noch die größten Justizanstrengungen gab, heimische Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen, wurde mittlerweile der Sonderstaatsanwalt für Kriegsverbrechen ausgetauscht, weil er sich angeblich zu wenig mit den an Serben begangenen Untaten beschäftigt haben soll.

Das unbestrittene Verdienst des Tribunals ist es, die Opfer gehört und die begangenen Verbrechen ausführlich dokumentiert und festgehalten zu haben. Die Botschaft seiner zu Jahresende auslaufenden Mission ist klar: Jeder Kriegsscherge hat künftig damit zu rechnen, für von ihm verantwortete oder begangene Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Manch umstrittener und eher politisch motiviert wirkender Freispruch ließ bei den Angehörigen und den Staaten der Opfer jedoch auch den bitteren Geschmack der Einseitigkeit und der ungesühnten Verbrechen zurück. Es würde indes zu kurz greifen, ausgerechnet dem Tribunal die Verantwortung für die ausgebliebene Aussöhnung anzulasten: Das Mitgefühl für die Opfer der anderen und die offene Konfrontation mit den im Namen der eigenen Nation begangenen Verbrechen kann den ex-jugoslawischen Brudervölkern letztendlich niemand abnehmen.

Doch den Balken im eigenen Auge haben die unversöhnlichen Nachfolgestaaten kaum im selbstgerechten Blick: Von der gemeinsamen Aufarbeitung ihrer Kriegsvergangenheit und einer echten Versöhnung scheinen die streitbaren Nachbarn leider noch immer Lichtjahre entfernt.

Zum Autor

Geboren 1962 in Traben-Trarbach. Ausbildung zum Keramikformer an der Porzellanmanufaktur Ludwigsburg. Studium der Journalistik in Dortmund und Utrecht. Volontariat beim Kölner Stadtanzeiger. Seit 1994 Korrespondent deutschsprachiger Zeitungen zunächst in den Benelux-Staaten (bis 2001) und Polen (bis 2006). Lebt und arbeitet seit 2007 als Balkan-Korrespondent in Belgrad. Seit 2013 bei Zeit online.