Mit Hut und Geduld

Mit Hut und Geduld

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Er steht nicht gern im Vordergrund. Der schweizerische Dominikaner-Bruder Christoph. Denn dies widerspricht nicht nur seinem Wesen, sondern auch seiner Auffassung von Gemeinschaftsarbeit. Diese wurde in den vergangenen 20 Jahren in Santa María Cahabón im Norden Guatemalas geleistet, indem man dort Bildungseinrichtungen schuf, in denen das Wissen der indigenen Bauern zusammenfließt, an die jüngere Generation vermittelt und dadurch wieder den indigenen Familien zugutekommen konnte.

An diesem Prozess war „Fray Cristobal“, wie er dort genannt wird, neben motivierten lokalen Akteuren, maßgeblich beteiligt. Eigentlich hatte er das vom mehr als 30-jährigen Bürgerkrieg gezeichnete Land nur besucht, aber dann beschlossen zu bleiben. Nun lebt er seit mehr als zwei Jahrzehnten als einziger Nicht-Indigener in einer Gemeinschaft vor Ort und erlebt hautnah mit, wie sich der zentralamerikanische Staat und seine Bewohner verändern.

Tageblatt: Lässt ein konsequentes Engagement in einem Land wie Guatemala (vor dem das deutsche Auswärtige Amt noch immer Ängste schürt) Sicherheitsbedürfnisse zu?
Fray Cristobal: Ich glaube, dass ich einfach gar nicht darüber nachdenke. Es gibt Menschen, die hierherkommen wollen, um eine Reise zu machen. Aber manche unter ihnen haben schon Angst, wenn sie aus dem Flugzeug steigen. Sie fragen sich, was passieren könnte, wenn sie hier in einen Bus steigen, fürchten sich vor Unfällen und Kriminalität … Mir selbst ist das fremd. Ich liebe die Menschen hier und möchte, solange wie es geht, mit ihnen unterwegs sein.

Wie schätzen Sie denn die Gefahrenlage ein für Menschen, die vor Ort mit der indigenen Bevölkerung arbeiten wollen?
Man sollte sich auf keinen Fall dumm exponieren oder zu viele Risiken eingehen. Es geht ja nicht darum, den Suizid zu suchen. Da kann man schon abwägen, was im Moment selbst sinnvoll und möglich ist. Mit Provokation nur der Provokation wegen gelangt man nicht zum Ziel. Viel eher kommt da sehr viel Kleinarbeit zusammen, die sich Stück für Stück entwickelt. Man muss sich fragen, was man will. Will man nur punktuell handeln oder auf lange Zeit etwas bewirken? Falls Letzteres zutrifft, dann muss man Teil dieser Gesellschaft werden. Genau dafür habe ich mich entschieden.

Wie würden Sie die Menschen, mit denen Sie zusammen leben und arbeiten, beschreiben?
Sie sind stark. Das hat mich immer beeindruckt, also ihre innere Kraft. Und große innere Stabilität. In Bezug auf ihren Umgang mit Leid, Arbeit und Problemen. Hier ist ein Ja ein Ja und ein Nein ein Nein. Das kann sehr weit gehen. Wenn ich jemanden korrigiere, weil es rechtens ist, dann ist er mir dankbar, tu ich es aber und bin ungerecht, dann kann es sein, dass ich den Menschen für immer verloren habe. Da gibt es schon eine sehr radikale Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit. Man trifft an diesem Ort auch auf eine bestimmte Art von Treue. In der Regel braucht es wenige klare Worte und dann ist alles gesagt. Heute genieße ich das; ich kann stundenlang mit jemandem unterwegs sein und wir sprechen kein Wort. Wichtiger als das Reden ist das Sein. Auch die starke Verwurzelung in der eigenen Identität, Religiosität und Spiritualität ist faszinierend. Individualität ist hier nicht wichtig, sie wird zwar wichtiger, aber das Kollektiv steht im Vordergrund. Nicht vergleichbar mit der Idee des Individuums, die wir haben. Das Individuum ist dem Kollektiv ganz klar untergeordnet und geht aber gerade dort auf. Die erste Zeit hier kann Einsamkeit produzieren, weil das Denkmuster noch auf Individualität getrimmt ist. Man riskiert anfangs, die Menschen falsch zu verstehen, da Gemüthaftigkeit und primäre Aktionen nicht an erster Stelle stehen. Das ist ein wunderbarer Lehrplatz. Eine Aussage eines Mitbruders von mir trifft es eigentlich recht gut, denn er meinte, kurz bevor ich hierherkam, zu mir: „Wenn du da hingehst, brauchst du zwei Dinge: einen Hut (wegen der Sonne) und Geduld.“

Wie ist es gelungen, dass unter anderem das „Instituto Agroecológico Fray Domingo de Vico“ schon so lange funktioniert und die Arbeit Früchte trägt? Hängen derartige Projekte nicht doch häufig von ganz bestimmten, motivierten, einzelnen Menschen ab?
Ich kann das nicht wirklich beantworten. Es gibt viele intelligente und geschickte Menschen, die solche Arbeiten im Kollektiv gemacht haben, unter anderem auch Ordensgemeinschaften. Da wurden gute Prozesse angerissen, die dann trotzdem nicht weitergegangen sind. Oder eben doch. Ich kann nur versuchen, die Gegebenheiten dafür zu schaffen, dass etwas weitergehen könnte. Es gibt viele Phasen, die man einbeziehen muss. Eine davon sind sicherlich die Finanzen, bei denen man beachten sollte, dass ein Projekt so lokal wie nur möglich finanziert werden kann. Relevant ist auch, dass die Menschen, um die es geht, sinnvoll eingebunden werden, sodass sie beitragen können. Sei es beispielsweise durch Freiwilligenarbeit oder schon allein durch ihre Solidarität. Es geht viel drum, an Überzeugungen zu arbeiten, an dem Bewusstsein dafür, dass es sich eben nicht nur um ein „Projekt“ handelt, sondern um einen Prozess, der im besten Fall Teil des Volkes und seines Alltags wird.

Gibt es Ihrer Auffassung nach eine Art goldenen Schlüssel im Rahmen Ihrer Arbeit?
Im Fokus steht das, was man „Empowerment“ nennt. Man soll auf die Erfahrung der Menschen vor Ort hören, damit Konzepte so gestaltet werden, dass sie auch von der
Bevölkerung weitergeführt werden können. Ich kann nur immer wieder sagen: Wenn ich einen goldenen Schlüssel auftreibe, der schön glänzt, aber die Tür sich trotzdem nicht damit öffnen lässt, dann bringt er nichts. Bei unserer Schule kann es durchaus sein, dass dieser Bereich in 20 Jahren anders aussehen wird, aber das, was sich durch den langwierigen Prozess in den Dörfer verändert hat, das wird nicht einfach so verschwinden, und das ist das Wichtigste.

Muss „Empowerment“ unbedingt von außen kommen?
Wenn man von außen (das kann auch außerhalb der eigenen Gemeinschaft, aber im eigenen Land sein) immer wieder gesagt bekommt, man sei nichts wert, weil man nicht zur Schule gegangen und angeblich arm ist und dann scheinbar auch noch die eigene Sprache nichts taugt, dann hinterlässt das Spuren. Ebenso wie die Tatsache, dass das Geschichtsbuch vor mehr als zwei Jahrzehnten, als ich anfing, hier zu arbeiten, mit der Ankunft von Christoph Kolumbus begann. Vorher soll es anscheinend nichts gegeben haben. Wenn dann aber wiederum von außen ein anderes Bild von Geschichte vermittelt werden kann und Wertschätzung, dann scheint mir das sehr wichtig. Ich denke, es braucht manchmal jemand anderen, der sagt „du bist schwer in Ordnung“, damit ich das, was woher verachtend war, in Stolz umwandeln kann.

Sie haben eben das Thema der Armut angesprochen. Wie würden Sie diese in Bezug auf Guatemala definieren?
Mir fiel schnell auf, dass es diesen Begriff so, wie wir ihn in Europa auffassen, hierzulande nicht gibt. Als ich hierherkam, war Cahabón wirklich am Ende der Welt, obwohl es für mich am Anfang der Welt stand. Es gab keinen Strom und keine richtigen Straßen. Aber hätte man zu jemandem, der ein Maisfeld, zwei Schweine, 20 Hühner und ein Palmhaus hatte, gesagt, er sei arm, dann wäre die Person berechtigterweise beleidigt gewesen. Ich erinnere mich sehr genau daran, wie ich zum ersten Mal jemanden in eben so einem Haus besuchte. Ich trat ein und hatte kurz das Gefühl, das sei kein richtiges Haus. Glücklicherweise hat es am selben Tag noch Klick in meinem Kopf gemacht, denn ich sah, wie die Beziehung zwischen Eltern und Kindern sowie mit den Tieren und dem Umfeld war. Da habe ich verstanden, dass es sehr wohl ein Haus war und man stolz darauf sein konnte. Ich muss auch heute noch bei uns in der Gemeinschaft stets darauf achten, dass unsere Truthähne nicht auf dem Tisch stehen, das bedeutet auch ein Stück weit Lebensqualität.

Nach all den Jahren: Was haben Sie selbst bei Ihrer Arbeit Ihrer Auffassung nach falsch gemacht?
Verschiedene Sachen wurden zu groß und wir mussten sie aufgeben. Wir haben Kakao bei den Bauern eingekauft und exportiert. An und für sich war das eine gute Sache, aber wir merkten, dass wir plötzlich unter dem Strich als Unternehmer eingestuft wurden. Alles, was hier irgendwie mit Geld zu tun hat, kommt sofort in den Verruf, korrupt zu sein, weil die Menschen nichts anderes erlebt haben im Laufe der Geschichte. Ein anderes Beispiel sind Kleinkredite. Interessanterweise hat es mit denjenigen, die wir an Frauen vergeben haben, besser funktioniert als mit anderen. Sie scheinen einen anderen Umgang mit dem Kleinen zu haben, was groß wird und aus dem Leben entsteht. Alles in allem kann man sagen, dass bei unseren Plänen zwar immer von vornherein klar war, wie es sein sollte, aber wir waren nicht immer 100% konsequent. So was muss man auch zugeben können.

Die religiöse Kultur gründet weitaus tiefer in Guatemala als die demokratische. Jedoch nagt das Land bis heute an dem Bürgerkrieg und dessen Konsequenzen. Politisch ist noch viel zu tun. Riskiert Religion in einer Situation wie dieser vom eigentlichen Handlungsbedarf abzulenken?
Viele Menschen hier sind nicht nur religiös, sondern auch gläubig, was wiederum mit Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und Tradition zu tun hat. Fast alle hierzulande sind Christen mit einer Religiosität, die auf die jahrtausendealte Erfahrung der Maya-Bevölkerung fußt. Die indigene Bevölkerungsgruppe der Kekchí sagt, es sei im Blut eines jeden Menschen, Gott zu spüren. Jetzt kann man sagen, das sei eine Illusion, dann ist man auf der Linie von Freud oder Nietzsche oder Religionskritikern. Das ist eine Option. Man kann aber auch sagen, dass dieses rationale Abhaken von Gott nicht die einzige Variante darstellt. Denn es gibt auch diese Sehnsucht nach dem Erfahren des Geheimnisses und der Unendlichkeit. Dem kann man Raum geben. Und je mehr Raum ich dem gebe, umso mehr wächst es oder eben nicht.
Und all dies steht meiner Meinung nach nicht im Widerspruch zu einem sozialen oder politischen Engagement. Kirche wird nie nur eine Institution oder ein Werkzeug sein, das auf eine soziale oder politische Frage eine einheitliche Antwort gibt. Weil innerhalb des menschlichen und sozialen Gefüges von Religion und Kirche immer alle politischen und ideologischen Tendenzen auffindbar sein werden. In der katholischen Kirche haben wir ja alles, vom befreiungstheologisch Orientierten über feministische Theologinnen bis hin zu lateinischen Messen und einem Priester, der dem Volk den Rücken kehrt, ein neoliberales und elitäres Wirtschaftsmodell vertritt oder gar Kanonen segnet. Meiner Auffassung nach lautet die Frage: Welch befreiendes Potenzial können wir aus Spiritualität und Religiosität oder Glauben schöpfen? Für mich ist bezüglich dessen, was ich aus der Bibel herauslese, Christus nur in der Peripherie verständlich. Also nur in einem radikalen Einsatz für das Humanum, für das Menschliche.