Missbrauchsskandal erschüttert Norwegen

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Von unserem Korrespondenten André Anwar

Über Jahrzehnte hinweg wurde in einer Gemeinde der samischen Urbevölkerung am Polarkreis systematischer sexueller Missbrauch zugelassen. Die Opfer galten als rechtlos und schwiegen. Der Polizei und den Behörden traute niemand.

Norwegen ist geschockt über die Ergebnisse einer Polizeiermittlung im idyllisch anmutenden lappländischen Tysfjord – einer schneebedeckten Gemeinde am Polarkreis, aus der eigentlich der Weihnachtsmann kommen könnte. Über Jahrzehnte hinweg wurden hier Frauen, Kinder und auch einige Männer als weitgehend rechtlos angesehen und systematisch sexuell missbraucht.

Erste Fälle 1953

In der knapp 2.000 Menschen zählenden, auf zwei größere Dörfer und ein riesiges Umland verteilten Gemeinde ist die Polizei nun auf 151 Fälle sexueller Gewalt gestoßen, darunter 43 Vergewaltigungen. Bislang seien 82 Opfer im Alter zwischen vier und 75 Jahren sowie 92 Verdächtige identifiziert, verkündete Polizeikommissarin Tone Vangen.

Vangen entschuldigte sich dafür, dass die norwegische Polizei lange völlig versagt habe. Zwei Drittel der Fälle gehen bis auf das Jahr 1953 zurück und sind verjährt. Vermutlich handelt es sich nur um die Spitze des Eisberges. „Junge mutige Frauen haben nun endlich das Schweigen gebrochen“, sagte Lars Magne Andreassen vom örtlichen Kulturzentrum der mehrheitlich indigenen samischen Bevölkerung dieser Zeitung.

Das Leiden von Liv aus Drag

Vor allem die von der landesweiten Zeitung VG veröffentlichte Geschichte von Liv aus dem Dorf Drag schockiert Norwegen. Als Liv 14 war, zeigte ein Lehrer ihren Vater wegen sexuellen Missbrauchs an. Der Vater musste für viereinhalb Jahre ins Gefängnis. Für Liv begann eine Leidenszeit. Elf Männer aus dem Ort vergewaltigten das Mädchen danach regelmäßig, weil das Familienoberhaupt weg war. „Ich war auf einmal Freiwild. Ich bat zu Gott, er möge mir helfen, nun wo Vater verurteilt wurde, aber es half nicht. Die Übergriffe wurden schlimmer. Erwachsene wussten, was los ist, aber keiner griff ein“, sagte sie der Zeitung VG. Zehn Jahre lang ging das so.

Auch weitere Frauen und Männer aus der Gemeinde berichteten VG von haarsträubenden Übergriffen und einem machtlosen Staatsapparat. Ein heute 20-jähriger Mann erzählte dort, dass er mit 13 von einer Frau missbraucht wurde. Sie kam für ein Jahr ins Gefängnis. Nach ihrer Entlassung wurden sie und ihr Mann ihm als Pflegeeltern zugeteilt.

„Ein dunkles Geheimnis“

Nachdem VG einen Artikel über diese Missstände im Sommer 2016 unter dem Titel „Ein dunkles Geheimnis“; veröffentlicht hatte, ermittelte die Polizei erstmals wirklich engagiert. „Jahrzehntelang schwiegen Opfer und Unbeteiligte aus Angst vor Repressalien und aus Loyalität zur hier sehr eingeschworenen Gemeinde“, erklärte Andreassen vom Kulturzentrum.

Die in Tysfjord lebenden Samen gelten mehrheitlich als strenggläubige Protestanten. Viele gehören dem Laestadianismus an, einer Form des Pietismus. Gemeinschaft bedeutet viel. Auch Relikte aus der uralten indigenen Religion, wie die magischen Fähigkeiten der Schamanen, spielen bei den Alten noch eine gewisse Rolle.

Gegenwelt zum modernen Norwegen

Was sich da auftut, ist eine parallele Welt zum anderen, modernen Norwegen. Viele Bewohner trauen der Polizei und sozialen Einrichtungen kaum. Einst wurden die Samen vom Staat unterdrückt. Wenn das Jugendamt kam, wurden den Eltern die Kinder weggenommen, um ihnen auf ärmlichen Internaten ihren samischen Teil auszutreiben und sie zu „anständigen christlichen Norwegern“ zu machen, erzählte Andreassen. „Das Misstrauen in den Staat sitzt bis heute tief in unserer Gegend“, sagte er.

In seinem Kulturzentrum finden regelmäßig Beratungsseminare statt. „Es war schockierend, zu hören, was die Polizei nun alles herausgefunden hat. Aber ich bin neben dem Schock über das jahrzehntelange Leid bei uns in der Gemeinde auch sehr stolz. Stolz auf die jungen Frauen, die den Mut hatten, nun an die Öffentlichkeit zu treten. Das ist hier viel schwieriger als man annehmen könnte“, sagte er.