Mindestlohn: Wie Feuer und Wasser

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Der Mindestlohn soll aufgebessert werden. Bis auf das Patronat hat niemand was dagegen. Und das soll sich mit den Salariatsvertretern verständigen, meint die Politik.

Nicolas Schmit lässt nicht locker. Der LSAP-Politiker und Arbeitsminister hat sich in die erste Reihe der Befürworter einer Anhebung des sozialen Mindestlohns gestellt. Und hebt damit die langjährige Forderung des OGBL nach einer massiven Anhebung des gesetzlichen Grundlohns auf eine neue politische Stufe.

„Es kann nicht sein, dass der unqualifizierte Mindestlohn so nahe an der Armutsgrenze liegt“, betonte Schmit zuletzt erneut auf RTL. Der Mann muss es wissen. Als Arbeitsminister hat er den besten Überblick über die Einkommenslage in der Luxemburger Arbeitswelt, zumindest jenes Teils, der gegen Gehalt arbeitet. Tatsächlich verdient ein Mindestlohnempfänger derzeit 1.727 Euro netto, die Armutsgrenze liegt bei 1.763 Euro.

Der Mindestlohn hat die beste Chance, die Dauerbrenner Index und Renten als Wahlkampfthema abzulösen. Endlich etwas Greifbares, um die Wähler anzusprechen. Oder doch nicht? Tatsächlich ist das durchschnittliche Einkommen der wahlberechtigten Luxemburger höher als das anderer Beschäftigter. Überraschen darf das nicht. Laut Statec arbeiten 45 Prozent der Luxemburger in drei Bereichen: öffentliche Verwaltungen, Unterrichtswesen und Gesundheits-und Sozialbereich. Die Debatte um den Mindestlohn betrifft in erster Linie nicht-luxemburgische Gebietsansässige und Grenzgänger. Was wohl auch die lauen Reaktionen der regierungsfähigen Parteien auf den OGBL-Vorschlag einer zehnprozentigen Erhöhung erklärt. Man müsse miteinander reden, betont Nicolas Schmit, und meint die Sozialpartner. Auch die CSV will reden, die DP sowieso. Während Premierminister Xavier Bettel immer wieder betont, zuerst müssten die wirtschaftlichen Folgen einer Mindestlohnanhebung analysiert werden, unterstreicht CSV-Präsident Marc Spautz die Bereitschaft seiner Partei für eine strukturelle Anhebung des Mindestlohns, auch wenn man Probleme mit den zehn Prozent des OGBL habe. Auf jeden Fall müsse netto mehr rauskommen, sagte er uns am Mittwoch.

Miteinander reden? Das haben Arbeitgeber und Gewerkschafter bereits, und zwar im Wirtschafts- und Sozialrat WSR. Das Ergebnis liegt seit einem halben Jahr vor: in einem 37 Seiten starken Dokument mit zwei unterschiedlichen Gutachten, die nichts gemeinsam haben außer vielleicht die Zahlen der Mindestlohnbezieher in Luxemburg.

Das Contra

Für die Patronatsseite steht eine Anpassung nicht zur Diskussion. Auch wenn man das ursprüngliche Prinzip des Mindestlohns nicht infrage stelle, schreibt sie in ihrem Gutachten. Ursprungsgedanke bei der Einführung des Mindestlohns war es, seinem Bezieher ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen und den sozialen Frieden zu gewährleisten (siehe Kader). Eine Erhöhung des Mindestlohns sei jedoch kein Allheilmittel, um den Ursachen zu begegnen, die ein dezentes Leben behindern, so die Unternehmensvertreter. Sie nennen dabei vor allem die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt. Ihr Hauptargument bleibt jedoch die mangelhafte Produktivität. Deren Entwicklung rechtfertige keine Erhöhung. In der EU sei Luxemburg eines der Länder mit dem niedrigsten Produktivitätszuwachs seit 2000 (+ 1,8 Prozent).

Mögliche positive Folgen einer Anhebung, wie zusätzliche Anstrengungen zur Verbesserung der Produktivität oder eine höhere Motivation der Beschäftigten, wären begrenzt, die allgemeinen negativen Folgen schwerwiegender. So würden zusätzliche, besser qualifizierte Grenzgänger auf dem luxemburgischen Arbeitsmarkt angezogen werden, auf Kosten der niedrig qualifizierten einheimischen Bevölkerung.

Die Probleme auf dem Wohnungsmarkt müssten durch eine Erhöhung des Angebots an Mietwohnungen gelindert werden. Außerdem sollten die öffentlichen Hilfen gezielter eingesetzt werden, um „unnötige und sogar kontraproduktive Ausgaben“ zu vermeiden, heißt es. Die Schwierigkeiten, sich beim „miteinander Reden“ zu verständigen, werden ersichtlich, liest man sich das separate Gutachten der „Salariatsgruppe“ im WSR an, das sich weitgehend mit der Argumentation des OGBL deckt. Eine Anpassung dränge sich allein schon wegen der über die Jahre gewachsenen Kluft zwischen Mindestlohn und durchschnittlichem Lohn in der Industrie auf, heißt es da.

Belief sich der Mindestlohn 1948 auf 64 Prozent des Bruttodurchschnittslohns eines Industriearbeiters, so waren es 2014 nur noch 43,5 Prozent. Auch wenn das gesetzliche Grundgehalt in Luxemburg EU-Spitze ist verglichen mit dem Betrag, der als Mindestgrenze betrachtet wird, um nicht in die Armut abzusinken, besteht doch Nachholbedarf: 1.727 Euro (Mindestlohn netto) gegenüber 1.763 Euro (Armutsrisiko 2015). Dabei schreibe die EU für die Mitgliedsländer einen Mindestlohn von 60 Prozent des Medianeinkommens in dem jeweiligen Land vor, so Nicolas Schmit. Das Risiko, in die Armut zu rutschen, ist auf 60 Prozent des Medianlohns festgelegt worden. Das Medianeinkommen trennt die erwerbsfähige Bevölkerung in zwei Gruppen: Die eine verdient mehr, die andere weniger als der genannte Betrag.

Das Pro

Noch dringlicher wird die Nachbesserung, vergleicht man den Mindestlohn mit dem Betrag, der Statec zufolge notwendig ist, um in Luxemburg anständig leben zu können. Den errechneten Wert dieses monatlichen „Referenzbudgets“ bezifferte Statec Dezember 2016 mit 1922.47 bzw. 1908,51 Euro (siehe Tabelle).

Unhaltbar ist für die Salariatsseite das Argument, ein höherer Mindestlohn würde Geringqualifizierte verdrängen. Sowohl bei den Mindestlohnbeziehern als auch bei der globalen Beschäftigungszahl liegt der Grenzgängeranteil bei 40 Prozent. Auch zeige das Beispiel Deutschland die positive Wirkung des Mindestlohns. Die deutschen Arbeitgeber hatten die Einführung eines Grundgehalts mit der Gefahr einen massiven Arbeitsplatzverlustes abwenden wollen. Was jedoch keinesfalls eintraf. Das Gegenteil war der Fall. Die vom OGBL geforderte Lohnerhöhung mag übertrieben hoch erscheinen, doch eine Anpassung des Referenzbudgets würde noch teurer ausfallen: 11,3 statt 10 Prozent.

Und die Sache mit der Produktivität? Auch da liegen sich Gewerkschaft und Patronat über Kreuz. Die Produktivität in den letzten Jahren sei um gut zwei Prozent pro Jahr gestiegen, so OGBL-Präsident André Roeltgen im Dezember 2017.

Wie aus der verfahrenen Lage herausfinden? Einen möglichen Weg zeichnete Nicolas Schmit vor. In der Vergangenheit hatte er sich bereits für eine etappenweise Anhebung ausgesprochen. Am Dienstag nannte er 100 Euro monatlich. Allzu kompliziert wäre das nicht. Allein die steuerliche Freistellung des Mindestlohns würde 80 Euro betragen. Mit einer steuerpolitischen Maßnahme könnte auch eine CSV leben. Präsident Marc Spautz spricht davon, den Eingangssteuersatz heraufzusetzen. Klingt alles einfach oder doch bloß Vorwahlgetöse?

Spautz kann sich eine kleine Spitze gegen Schmit nicht verkneifen: Erstaunlich finde er es schon, dass der Arbeitsminister jetzt mit seiner Forderung komme. Schließlich sei er neun Jahre Beschäftigungsminister. Davon einige Jährchen mit einer CSV, sollte man zur Erinnerung hinzufügen. Bliebe dann noch die Frage, wie sich ein höherer Mindestlohn auf das ganze Gehältergefüge im Privatsektor auswirken würde.


Wann wurde der Mindestlohn eingeführt?

Der soziale Mindestlohn wurde durch großherzoglichen Erlass vom 30. Dezember 1944 eingeführt: „Considérant qu’il échet, dans un intérêt d’ordre économique et de paix sociale, dans l’attente de la fixation des salaires par voie de contrat collectif ou autrement, de fixer les salaires considérés comme indispensables pour permettre aux travailleurs de se procurer les articles de première nécessité et le logement nécessaire au maintien d’un niveau de vie suffisant.“

Was sind Sozialtransfers?

Unter Sozialtransfers versteht man alle Zuschüsse, Zulagen wie Kinder/Schulgeld und andere öffentliche Hilfen, die den Haushalten überwiesen werden. Auch die Renten gehören dazu. Diese Transfers tragen dazu bei, die Zahl der Haushalte zu reduzieren, die wegen ausbleibender oder niedriger Einkommen Gefahr laufen, in die Armut zu rutschen. 2015 betraf das Armutsrisiko vor Sozialtransfers 44,7 Prozent der Bevölkerung, nach Einbeziehung der Renten waren es 27,2 Prozent, nach Ausschüttung aller Hilfen 15,3 Prozent.

Wie viele Menschen verdienen in Luxemburg den Mindestlohn? 

45.204 Beschäftigte verdienten Ende März 2016 den Mindestlohn. Das sind 12,4 Prozent der Gehaltsempfänger (Beamte ausgeschlossen). Davon bezogen rund 27.000 den unqualifizierten Mindestlohn (1.998,59 Euro brutto seit Januar 2017). Der qualifizierte Mindestlohn ist 20 Prozent höher. Zuletzt war er um 1,4 Prozent zum 1. Januar 2017 angehoben worden.

 

Christian Isekin
5. Januar 2018 - 11.50

Richtig. Einkommen und Arbeit müssen voneinander getrennt werden. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist eine Philosophie, und nicht Geld für's nichts tun. Ein BGE soll ja auch nicht den Menschen so finanzieren, dass er ein Leben in Saus und Braus führen kann, ohne zu arbeiten. Es ist eine Überlebensbasis und das Geschenk von mehr Freiheit was die Wahl einer Arbeit betrifft. Eine progressive, entspannte und empathische Gesellschaft kann nur geschaffen werden, wenn das erpresserische System, in dem wir leben, abgeschafft wird. Aber wollen die waren Machthaber dies? Mehr Geld bedeutet mehr Freiheit, doch auch wenn unsere konventionellen Politiker sagen, dass sie nur das Beste für ihr Volk wollen, bestätigt das aktuelle System genau das Gegenteil.

fluppes
4. Januar 2018 - 14.46

Niemand sollte sich für den Mindestlohn abschinden und für ewig Miete bezahlen, weil das Anschaffen einer Eigentumswohnung nicht drin ist. Schluss mit moderner Sklaverei und Ausbeutung der arbeitenden Klasse. Vielleicht würde ein bedingungsloses Grundeinkommen helfen, Menschen die Existenzangst zu nehmen und sie für ihrer geleistete Arbeit würdiger entlohnen? Ein "Grundeinkommen" funktioniert hauptsächlich als eine Umverteilung der Steuerlast. Arbeit sollte jedenfalls nicht vorrangig besteuert werden während Big Business und "Kasino-Kapitalismus" zum Grossteil nicht nur verschont bleiben, sondern fette Steuergeschenke bekommen.

Fantastico
4. Januar 2018 - 13.48

Die Alternative zu einer Mindestlohnerhöhung wäre eine drastische Erhöhung/Verallgemeinerung der allocation de vie chère! Dies ginge ausschließlich zulasten des Staates und und nicht der Arbeitgeber und würde dennoch allen Armutsgefährdeten spürbar unter die Arme greifen!