Guatemala: Schule kulturell denken

Guatemala: Schule kulturell denken

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„Wenn ich groß bin, dann will ich …“ Diesen Satz hört man in Guatemala selten bis gar nicht von Kindern. Weder der Bildungsbereich noch der Arbeitsmarkt stellen ein Wunschkonzert dar. Wer vorankommen möchte, muss sich vielen Herausforderungen stellen, vor den ihrerseits auch die Schulen stehen.

Die Situation der luxemburgischen Landwirte ist ohne Zweifel komplex und keineswegs einfach, aber im Gegensatz zu sehr vielen Bauernfamilien in Luxemburg haben indigene Bauern in Guatemala keine wirkliche Alternative zu ihrem Beruf, der eigentlich eher eine kulturell bedingte Tätigkeit zum Überleben darstellt. „Das Boot ist voll“, sagt der guatemaltekische Lehrer Arnulfo mit ernster Miene und fügt hinzu: „Und zwar sowohl in der Hauptstadt als auch in den Nachbarnländern.“ Allein die Reise dorthin können sich viele nicht leisten.

51% der Bevölkerung, die in jenem Departement lebt, in dem Arnulfo unterrichtet, nämlich Alta Verapaz, fristen ein Dasein in extremer Armut. In den meisten Fällen haben und werden junge Menschen das Land wohl nie verlassen. Die Frage nach einem Studium im Ausland stellt sich gar nicht erst. Für viele kann nicht mal die Grundausbildung als gesichert gelten. Bis in die 90er Jahre hinein gab es in der Hälfte der Dörfer keine staatlichen Schulen, zahlreiche Kinder konnten weder lesen noch schreiben. Auch heute noch liegt die Analphabetismusrate in Guatemala bei mehr als 20 Prozent und gehört somit zu den höchsten Zentralamerikas. Darunter rangieren viele indigene Guatemaltekinnen und Guatemalteken. Bildung steht nach wie vor nicht an erster Stelle für die Regierung, öffentliche Gelder fließen keineswegs prioritär in Lehranstalten.

Zu wenig Arbeitsplätze

„Wenn junge Menschen dann doch den Schritt gehen, sich entwurzeln und ihr Zuhause im Urwald verlassen, schaffen sie es oft höchstens bis nach Guatemala Ciudad. Falls sie dort überhaupt Arbeit finden, dann eventuell als Sicherheitskraft. So stehen sie dann bewaffnet am Eingang von Geschäften. Weit entfernt von dem, was sie je ausmachte“, schildert Arnulfo die Situation. Jedes Jahr kommen 200.000 neue junge Arbeitskräfte auf den Arbeitsmarkt im zentralamerikanischen Staat, Arbeitsplätze gibt es jedoch nur für 20.000 unter ihnen. Die bis heute anhaltende Diskriminierung der Urvölker erschwert die Suche nach einer menschenwürdigen, finanziell rentablen Tätigkeit zusehends. Auch nach dem Bürgerkrieg kam es diesbezüglich nicht zu einem entscheidenden strukturellen Wechsel.

Karsten Bechle statuiert in einem Beitrag für die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung, Guatemalas Eliten seien nicht bereit, einen Beitrag zur Reduzierung der sozialen Exklusion zu leisten. Wer außerhalb des Heimatdorfs einen Job finden möchte, der braucht Connections. Ein Schelm, wer hier eine Parallele zu Luxemburg zieht. Fixe Arbeitsplätze gibt es wenige, zahlreiche Tätigkeiten bewegen sich eher im informellen Bereich und unterliegen so auch keinem bestimmten Arbeitsrecht.

Von liberaler Seite heißt es, die Industrialisierung könne Guatemala vorantreiben und Mega-Investitionen reicher In- und Ausländer würden etliche Arbeitsplätze schaffen. Hierbei handelt es sich jedoch um kurzfristige Lohnarbeit, die lediglich so lange verrichtet werden kann, bis beispielsweise ein Staudamm oder ein Wasserkraftwerk fertig gebaut ist. Dies hat nicht nur den Nachteil, dass Bauern, die solchen Tätigkeiten nachgehen, während dieser Zeit ihre Felder vernachlässigen, sondern auch, dass derartige Konstruktionen das Überleben vieler ländlicher Familien erschweren und sich der Spiritualität der indigenen Bevölkerung entgegenstellen.

Nicht nur offene Türen

Diese Punkte zeigen auf, dass Bildung ein wichtiger Schlüssel zum Überleben ist. „Man muss Schule und auch die spätere Arbeit kulturell denken, sonst kommt man hier nicht weit“, erläutert Lehrer Arnulfo. Nicht wenige private Schulen in Guatemala werden von Stiftungen reicher Einheimischer und großer Firmen getragen, die dadurch von steuerlichen Vorteilen profitieren können, aber die gebotene Ausbildung holt die Menschen nicht unbedingt dort ab, wo sie stehen. „Sogar wenn der Unterricht sich durchaus auf hohem Niveau abspielt, muss man sich stets fragen, wie nachhaltig sich das Ganze auf die Schüler sowie die Familien auswirkt“, gibt der Lehrer zu bedenken.

Früher hat man an seiner Schule unter anderem Agronomen ausgebildet, aber dies hatte einen negativen Effekt, den man sich so nicht direkt erwartet hatte: „Die frisch ausgebildeten Schüler zogen los, um, für guatemaltekische Verhältnisse, das große Geld zu machen. Sie verließen ihre Familie, die sie aber gebraucht hätte, und kehrten nicht zurück.“

In Guatemala verdient man im Durchschnitt um die 3.000 Quetzales im Monat, was ungefähr 300 Euro gleichkommt. Ein Agronom verdient jedoch locker das Doppelte. „Es besorgte uns nicht nur, dass sie verschwanden, man darf auch nicht außer Acht lassen, dass die Schulbildung den Charakter mitformt und übermäßiges elitäres Bewusstsein Gefahren bergen kann“, so Arnulfo. Man versuchte, den Lehrprozess und die Ausbildung zu ent-akademisieren, was jedoch nicht so einfach war. „In einem Land, das derart von Desintegration und Migration geprägt ist, gestaltet sich dies alles andere als einfach“, erklärt Arnulfo, „auch weil in diesem Kontext innergesellschaftliche Spannungen mitspielen.“

Graben zwischen der Bevölkerung

Der Graben zwischen sogenannten Ladinos, also spanischsprachigen Mestizen, und der indigenen Bevölkerung ist nach wie vor tief und man sieht die bäuerliche Tätigkeit als minderwertig an. Zudem unterstützt die Regierung die indigenen Bauern nicht, eher im Gegenteil. Unter diesen Rahmenbedingungen trotzdem Stolz aufzubauen und wieder spürbar zu machen für die Schüler, braucht seine Zeit. Hier übernehmen manche Schulen klar diese Rolle. „Zudem muss man auch das passende Personal finden, um genau diesem Auftrag nachkommen zu können“, ergänzt Arnulfo. „Manchmal haben wir Lehrer, die uns ihre Abschlüsse hinhalten, aber wenn wir sie dann fragen, ob sie ein eigenes Feld bestellen oder eine Parzelle haben, kommt nur ein erstauntes ‚Nein?‘.“

Über die Jahre begann die Schule deswegen damit, selbst Lehrer auszubilden und beispielsweise die Eltern oder ehemalige Schüler mit einzubinden. „Es hilft enorm, wenn die Lehrkraft weiß, von was sie spricht, und an das glaubt, was sie tut. Wenn sie selbst von dem, was sie vermittelt, überzeugt ist, dann überzeugt auch sie mehr.“

Kenne deine Rechte

Obwohl die Schule einen Fokus auf Agrarökologie und Landwirtschaft legt, werden auch klassische Fächer wie Geschichte oder Mathematik unterrichtet. Da man einen transversalen Ansatz verfolgen möchte, werden die Lehrer der Geisteswissenschaften auch schon mal mit aufs Feld genommen, damit diese sehen, was die Schüler in den praktischen Fächern tun. Auch umgekehrt kommt der landwirtschaftliche Unterricht beispielsweise nicht ohne Geschichte aus. So lernen die Kinder schon im ersten Jahr, was die Begriffe „tierra“ und „territorio“ voneinander unterscheidet. Vor allem für die jüngere Generation spielt dies eine Rolle, da es zuvor eher die Regel war, dass die indigene Bevölkerung zwar Boden bearbeite, der aber nicht zu ihrem Besitz gehörte, da sie quasi als Handlanger der Großgrundbesitzer fungierten.

Heute haben indigene Jugendliche es mit anderen Besitzverhältnissen zu tun. Eine totale Entwarnung kann man trotzdem nicht geben, aber zumindest sind die Enteignungen stark zurückgegangen. Sehr spannend ist auch, dass in den Unterrichtsstunden über die eigenen Rechte diskutiert wird, die unter anderem im „ILO 169“ verankert sind. Dies ist ein Übereinkommen, das sich auf Eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern bezieht. Es trat 1991 in Kraft und stellt die bisher einzige internationale Norm dar, die Urvölkern rechtsverbindlichen Schutz sowie bestimmte Grundrechte garantiert.

Die Konvention verweist unter anderem auf internationale Normen, erinnert an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sowie an den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Ebenso geht es um bürgerliche und politische Rechte und um Diskriminierung. Auch sollen indigene Völker ihre Identität bewahren und entwickeln können. Das Übereinkommen wurde übrigens nun endlich, fast 27 Jahre später, Ende Februar von Luxemburg ratifiziert. Damit ist das Großherzogtum erst das 23. Land, das durch seine Unterschrift die Rechtsposition indigener Völker stärkt.

„Jeder bringt ein Teil mit“

Dieses Dokument ist kein Geschenk an die indigenen Völker weltweit. Es ist eine Anerkennung der ihnen ohnehin zustehenden Rechte. Mit Geschenken will und kann man hier wenig anfangen, wie Arnulfo erläutert: „Wir gehen jeglichem Assistenzialismus aus dem Weg. Wenn man so will, ist lediglich unsere Begleitung ein Geschenk. Es ist wichtig, dass die Menschen verstehen, dass sie eben dies alles ohne Geschenke, selbst hinbekommen.“ Auch hier gibt es wieder eine Parallele zur Kultur. Arnulfo vergleicht es mit den Festen, die in den Dörfern gefeiert werden: „Es bringt jeder einen Teil mit statt dass nur einer alleine kocht und alles zur Verfügung stellt.“

„Hier spielt auch ein Plus an Respekt für etwas Selbsterschaffenes mit, das sich mehren kann, wenn es im Kollektiv zusammengetragen wird.“ Dementsprechend wird im Schulbetrieb das Individuum nicht vollends in den Hintergrund gestellt, aber es geht mehr um ein kommunitäres, gemeinsames Agieren. Bisher sind durch die Schüler, die die Schule in den vergangenen Jahrzehnten besuchten, 500 bis 600 Familien in diesen langwierigen Prozess impliziert, aber auch indirekt kommen immer mehr Menschen hinzu, die Interessengruppe weitet sich aus. Abschließend zitiert Arnulfo einen Lehrer, der mal an der Schule unterrichte: „Wir sind vielleicht nicht die Besten, aber wir machen es anders.“