„Die DDR war für mich Trainingslager der Freiheit“

„Die DDR war für mich Trainingslager der Freiheit“
Bayern, Mödlareuth: Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Mauerfalls fährt eine Trabi-Kolonne durch eine dafür aufgebaute Maueröffnung, vorbei an Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU, r).  Foto: Nicolas Armer/dpa +++ dpa-Bildfunk

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Thomas Krüger hat zwei Leben gelebt, mindestens. Der 60-Jährige verbrachte die ersten 30 Jahre bis zum Mauerfall als Kind der DDR. Er war dort Theologe und Mitbegründer der Ost-SPD. Danach begann seine politische Karriere im Westen, wo er nun seit 19 Jahren Präsident der Bundeszentrale für Politische Bildung ist. Unser Berliner Korrespondent Werner Kolhoff fragte den gebürtigen Thüringer nach seiner Bilanz.

Tageblatt: Leben kann man nicht vergleichen. Aber in welchem Land war das Leben besser?
Thomas Krüger: Ohne Frage in dem Land, in dem ich mich frei bewegen kann, und in dem ich denken kann, was ich will. Trotzdem gehört natürlich auch meine DDR-Vergangenheit zu mir. Ich würde sagen, die DDR war für mich so etwas wie ein Trainingslager, um mich an autoritären und diktatorischen Strukturen abzuarbeiten – und Freiheit und Demokratie umso mehr schätzen zu lernen.

Hat die Mauer für einen Heranwachsenden in der DDR eine starke Rolle gespielt? Hat man darüber oft nachgedacht?
Nein, man hat sie eher ausgeblendet. Weil es auch unerträglich ist, wenn man realisiert, dass man eingemauert ist. Viele haben für sich kleine Fluchten und Freiräume gesucht. Ich zum Beispiel bin häufig im Transit durch die Sowjetunion gereist und habe dabei versucht, möglichst weit von der vorgegebenen Route abzuweichen. So bin ich in den Kaukasus, zum Kaspischen Meer und auf den Elbrus gekommen und war stolz darauf.

Wie haben Sie beim Mauerfall empfunden?
Die Bürgerrechtsbewegung war damals gerade stark im Aufwind und wir glaubten, dass wir aus der DDR ein demokratisches Land machen könnten. Mit der chaotischen Öffnung der Mauer verflogen diese Träume. Für mich war der 9. November eher ein Schock und ein Moment der Enttäuschung.

Weil die DDR-Bürgerbewegung immer unterschätzt hat, dass eine Mehrheit der Menschen keinen neuen Staat, sondern nur die D-Mark und ein vereinigtes Deutschland wollte?
Das stimmt. Wir haben uns eingebildet, irgendetwas in der DDR zu repräsentieren, aber wir waren in Wirklichkeit nur eine kleine Gruppe, die für sich eine Utopie hatte, welche von anderen nicht geteilt wurde. Im Unterschied zu Solidarnosc in Polen, die ja auch noch die Katholische Kirche im Rücken hatte, konnten wir nie wirklich eine Machtperspektive entfalten.

Viele DDR-Bürger haben den Prozess der Einheit als traumatisch empfunden. Wäre ein Treuhand-Untersuchungsausschuss heute noch sinnvoll?
Es gab damals wenig Alternativen für den wirtschaftlichen Übergang. Allenfalls hätte man ihn zeitlich strecken können. Dagegen stand die Sehnsucht der Mehrheit der DDR-Bürger nach schneller Wiedervereinigung und nach der D-Mark. Das Ganze spricht eher für eine sorgsame historische Aufarbeitung als für einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Es kann jetzt nicht mehr um Abrechnung gehen.

Wieso kann 30 Jahre danach eine politische Partei, die AfD, mit dieser Enttäuschung noch Punkte machen?
Drei Viertel der DDR-Bevölkerung hatten mit SED oder Stasi nichts zu tun. Trotzdem spielten die Erfahrungswelten der normalen Bürger nach der Wende keine Rolle. Die erlebten nicht nur Arbeitsverluste, sondern auch den Verlust ihrer Alltagskultur. In dieses Terrain stößt jetzt die AfD vor – übrigens ausschließlich mit westdeutschen Führungspersonen. Ironie der Geschichte: Wieder vertreten Wessis die angeblichen Interessen der Ostdeutschen.

Haben die Ostdeutschen die Demokratie nicht verstanden?
Die DDR war eine homogene weiße Gesellschaft. Die Vertragsarbeiter aus Polen oder Vietnam wurden von der Bevölkerung abgeschottet, ebenso die sowjetischen Besatzungssoldaten. Die Begegnung verschiedener Lebenserfahrungen und -stile sowie Kulturen war nie ein Thema. Die Wähler der AfD sind aber nicht alle verfestigt rechts. Wahlen im Osten waren schon immer sehr volatil und wurden genutzt, um aktuelle Unzufriedenheiten zu äußern.

Aber die Hälfte der jetzt im Osten lebenden Bürger ist in der vereinigten Bundesrepublik groß geworden. Warum schlägt diese Demokratieerfahrung nicht durch?
Die, die Bildungserfolge hatten, vor allem aus den ländlichen Räumen, sind in den Westen gegangen. Zurückgeblieben sind junge Männer mit relativ geringen Bildungsabschlüssen. In einigen ostdeutschen Universitätsstädten und Metropolen ändert sich das allmählich wieder. Was im Osten läuft, ist in verschärfter Form im Grunde ein Kampf um die kulturelle Hegemonie zwischen offener Gesellschaft und Abschottung. Diesen Kampf gibt es angesichts der Globalisierung in vielen Ländern.

de Pinktchen
11. November 2019 - 10.10

Im Nachhinein hat man immer gut reden.