„Demokratie ist anstrengend“

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Seit 2016 gibt es nun schon das „Zentrum fir politesch Bildung“ (ZpB). Das Tageblatt sprach mit Direktor Marc Schoentgen und Vizedirektorin Michèle Schilt über die Stiftung, die Jugend und die Wahlen.

Tageblatt: Was ist politische Bildung eigentlich?
Marc Schoentgen: Auf diese Frage antworte ich immer, dass politische Bildung keine „instruction civique“ ist. Die Worte „instruction“ oder „éducation“ passen beide nicht wirklich. Die politische Bildung ist ein Prozess. Es geht darum, selber etwas zu lernen und aktiv zu sein. Gleichzeitig geht es darum, mit den Institutionen und den Menschen, die in diesen arbeiten und sie vertreten, kritisch umzugehen. Zur politischen Bildung gehört auch, dass man diskutiert und dass es keinen Konsens gibt. Für das Wort Bildung gibt es keine richtige Übersetzung im Französischen oder dem Englischen. Wir arbeiten handlungsorientiert. Das hebt auch unser Slogan „Demokratie lernen und leben“ hervor. Es geht nicht darum, einem jungen Menschen zu sagen, wie die Institutionen funktionieren und was er zu tun hat. Er soll selber erfahren können, was seine Rechte und Pflichten sind.

Es geht also nicht darum, alle Premierminister seit dem Krieg auswendig zu kennen?
Marc Schoentgen: Definitiv nicht. In der heutigen Zeit, in der man solche Informationen auf Wikipedia oder der Internetseite der Regierung findet, ist es witzlos, so etwas zu lernen.

Michèle Schilt: Politische Bildung passiert nicht nur in der Schule, sondern auch außerhalb davon.

Marc Schoentgen: Und sie betrifft nicht nur junge Menschen, sondern jeden.

Ist politische Bildung etwas, das in Luxemburg nötig ist? Kriegt man politische Bildung nicht automatisch von den Eltern oder den Medien vermittelt?
Marc Schoentgen: Nein. Die politischen Seiten einer Zeitung wurden noch nie von allen Menschen gelesen. Und heute lesen die Menschen weniger Zeitung. Politische Bildung ist heute notwendiger denn je.

Michèle Schilt: Luxemburg unterscheidet sich da nicht von anderen Ländern. Demokratie ist ein System, das gelernt werden muss. Politische Bildung ist dafür da, das zu leisten.

Warum meinen Sie, politische Bildung sei heute notwendiger denn je?
Marc Schoentgen: Heute stellen sich einfach viele Fragen. Stichwort „Fake News“. Wie gehe ich mit Medien um? Das sind aktuelle Fragen. Vielleicht hätte man sich diese Fragen auch früher stellen sollen, aber heute ist dieses Phänomen in der Aktualität. In ganz Europa – auch in Luxemburg – wird eine Diskussion über Populismus geführt. Vor fünf oder zehn Jahren war das meines Erachtens noch kein so brisantes Thema. Auch das Thema Flüchtlinge hatte vor zehn Jahren nicht die gleiche Brisanz wie heute.

Warum gibt es in Luxemburg noch keine rechte Partei wie zum Beispiel in Österreich oder in den Niederlanden?
Marc Schoentgen: Ich bin kein Politologe, der die Welt der Parteien in Luxemburg erforscht. In Luxemburg gibt es Populismus, auch wenn der sich bislang nicht in einer Partei kristallisiert hat. Im Internet gibt es einen solchen Diskurs. Ob es sich dabei um Populismus oder einen übertriebenen Nationalismus handelt oder ob wir uns im identitären Bereich befinden – das müssen wir mir der nötigen Distanz bewerten. Das will ich jetzt nicht beurteilen. Ich will die Menschen jetzt nicht bestimmten Richtungen zuordnen.

Für das ZpB ist Nationalismus also etwas Schlechtes?
Marc Schoentgen: Das habe ich ganz wertneutral gesagt. Wir vertreten keinen Nationalismus. Jeder Nationalismus, alle -ismen, sind etwas Exklusives. Andere werden ausgeschlossen. Dafür steht das ZpB nicht ein. Ich bin sehr vorsichtig mit solchen Worten. Nationalismus ist ein historischer Begriff, ein Begriff aus der Politologie. Ich benutze ihn nicht als Waffe.

Ist das eine grundlegende Einstellung des ZpB, nicht wertend zu sein?
Marc Schoentgen: Ein Teil unserer Arbeit ist es, nicht wertend zu sein. Und zwar in dem Sinne, dass ein Problem nicht einseitig angegangen werden soll. Dabei muss man allerdings aufpassen, nicht beliebig oder unverbindlich zu sein oder nichtssagend zu werden.

Was bedeutet „beliebig“?
Marc Schoentgen: Zu sagen, alles sei gut und jede Meinung gleich richtig. Unsere Aufgabe ist es nicht, den Leuten zu sagen, was gut oder schlecht ist. Politische Bildung gibt ihnen das Werkzeug, damit sie das selber herausfinden können. Das ist der Prozess, von dem ich gesprochen habe.

Michèle Schilt: Wir sind auch in der Hinsicht nicht beliebig, als dass wir uns auf Menschenrechte und die Luxemburger Verfassung basieren. Wir bewegen uns nicht in einem rechtsfreien Raum. Eine menschenfeindliche Aussage kann man nicht einfach als eine Meinung unter anderen abtun.

Marc Schoentgen: Diese Anmerkung ist wichtig. In diesem Sinne sind wir nicht neutral.

Sie sagen also zu den Leuten, sie sollen sich informieren, und was dabei herauskommt, ist Ihnen egal, solange es sich im Rahmen der Menschenrechte bewegt?
Marc Schoentgen: Wir sind nicht meinungsbildend im Sinne, dass wir gerne eine bestimmte Meinung von den Menschen vertreten sehen. Das impliziert eine gewissen Offenheit.

Michèle Schilt: Wir beziehen nicht Position.

Sind Sie nicht vom Staat abhängig und verpflichtet, dessen Meinung zu vertreten? Zum Beispiel Monarchie zu befürworten?
Michèle Schilt: Nein, sind wir nicht. Punkt. Dieses Thema würden wir angehen, indem wir über verschiedene Staatsformen sprechen, die existieren und über ihre Vor- und Nachteile. Es geht uns nicht darum, einfache Antworten zu geben. Uns geht es darum, auch polarisierende Fragen in einen Kontext zu setzen.

Marc Schoentgen: Bei unserer Arbeit sind wir inhaltlich total frei. Wir sind natürlich abhängig, weil wir Geld vom Staat bekommen.

Michèle Schilt: Wir haben ein Rahmenabkommen. Das gibt allerdings keine Inhalte vor.

Ist nicht eines der Probleme heute, dass die Menschen keine einfachen Antworten mehr haben, auf die sie sich verlassen können?
Michèle Schilt: Es gab noch nie einfache Antworten. Die Leute haben bloß gedacht, sie hätten einfache Antworten. Demokratie ist anstrengend.

Marc Schoentgen: Die Menschen hätten gerne einfache Antworten. Das ist ja die Taktik bestimmter Populisten: „Grenzen zu, und das Problem ist gelöst.“ So argumentieren diese Menschen.

Sie sind 2016 gegründet worden. 2017 gab es Gemeindewahlen. 2018 gibt es Parlamentswahlen …
Michèle Schilt: … 2019 sind Europawahlen.

Sind Sie ins kalte Wasser geworfen worden? Hätten Sie lieber mehr Vorlauf gehabt?
Marc Schoentgen: Wir haben im Oktober 2016 angefangen. Natürlich haben wir viel Arbeit in den Aufbau gesteckt. Wir hatten aber bereits ein Jahr lang öffentliche Veranstaltungen. Was wir für die Gemeindewahlen gemacht haben, war dann sehr sichtbar. Wir erfüllen natürlich unseren Auftrag, indem wir politische Bildung für junge Menschen und Kinder machen. Das hat natürlich auch einen Bezug zur Aktualität. Wir haben aber keine Werbung für bestimmte Parteien gemacht. Uns ging es darum, zu erklären, wie unser System funktioniert. Kindern aus der Grundschule zum Beispiel kann man die Sinnhaftigkeit von Wahlen erklären. Sie müssen in Zukunft auch zur Wahl gehen. Es reicht nicht aus, einer Person kurz vor ihrem 18. Geburtstag zu erklären, wie Wahlen funktionieren. Sie muss auch wissen, was auf dem Spiel steht.

Michèle Schilt: Der Zeitpunkt war im Grunde perfekt. Wir fangen im Kleinen an und werden immer größer: Gemeindewahlen, Nationalwahlen, Europawahlen.

Marc Schoentgen: Es stimmt, dass die Wahlen unsere Arbeit in der Vergangenheit dominiert haben, und das werden sie auch in diesem Jahr machen.

Wie gehen Sie an ein Ereignis wie die Nationalwahlen heran? Mit einem Sonderprogramm oder ist so etwas schon zur Routine geworden?
Michèle Schilt: Routine, auf keinen Fall.

Marc Schoentgen: Wir werden das, was wir für die Gemeindewahlen gemacht haben, thematisch neu für die Nationalwahlen und die Europawahlen aufstellen. Wir wenden uns mit unserem Angebot auch an „Multiplikatoren“. Wir erklären Erwachsenen, wie sie das Thema mit Jugendlichen bearbeiten können, ohne dass es zur reinen Wissensvermittlung wird. So etwas wird schnell langweilig für die Kinder und dann kann der Lernprozess der politischen Bildung nicht stattfinden. Wir hatten auch eine Publikation in Leichter Sprache, weil uns der Zugang zur Information sehr wichtig ist. Sie richtet sich an junge Menschen, die nicht gut lesen können und die keine komplizierten Texte verstehen. Bei den Gemeindewahlen haben wir mit jungen Menschen zusammen ein „Open Space“ abgehalten, bei dem die jungen Menschen mitdiskutieren und Fragen stellen können. Wir haben das zusammen mit jungen Politikern gemacht und dabei darauf geachtet, dass Vertreter mehrerer Parteien dabei sind. Das werden wir bei den Kammerwahlen und den Europawahlen wiederholen.

Warum liegt Ihr Fokus auf jungen Menschen?
Marc Schoentgen: Das ist Teil unseres Auftrages.

Michèle Schilt: Wir sind aus dem Bildungsministerium heraus geboren worden.

Marc Schoentgen: Eine zweite Erklärung ist, dass man junge Menschen noch gut erreichen kann, wenn sie in der Schule sind. Erwachsene zu erreichen, ist schwieriger. Die sitzen nicht in einer Klasse zusammen. Man darf auch nicht unterschätzen, dass das Interesse bei jungen Menschen sehr groß ist. Oft wird gesagt, diese interessierten sich nicht für Politik. Diese Erfahrung mache ich nie. Es ist eher die Form des politischen Engagements, die sich verändert hat. Die jungen Menschen haben wenig Lust, einer Partei beizutreten, sich parteipolitisch zu engagieren und den Gang durch verschiedene politische Gremien anzutreten. Sie interessieren sich aber für verschiedene Themen, die sie direkt betreffen und sind bereit, sich zu mobilisieren. Heute geschieht das auch nicht über die gleichen Kanäle. Die Jungen lesen nicht unbedingt Zeitungen und dicke Bücher, sondern informieren sich über soziale Medien und das Internet.

Also mehr Aktivismus als Parteipolitik?
Michèle Schilt: Die jungen Menschen wollen sich für eine Sache engagieren, bei der ein sofortiges Resultat abzusehen ist.

Wird so etwas nicht sehr oft enttäuscht?
Marc Schoentgen: Das Risiko besteht natürlich.

Michèle Schilt: Das kann durchaus der Fall sein. Ich weiß allerdings nicht, ob das Engagement in einer Partei fruchtbarer wäre oder als fruchtbar empfunden würde. Wenn sich jemand gegen den Krieg in Syrien starkmachen will, dann kann er zu einer Demo gehen und hat dann das Gefühl, eine Botschaft gemacht zu haben. Damit ist der Krieg nicht beendet. Es ist aber eine andere Form, seine Meinung kundzutun. Es geht darum, für etwas einzustehen.

Sie sind also bereit für die Nationalwahlen. Sind die Wähler vorbereitet?
Marc Schoentgen: Es wäre naiv zu glauben, dass wir mit unseren Publikationen und Internetauftritten flächendeckend alle Wähler erreichen würden. Diese Mittel haben wir nicht und es ist auch nicht unser Anspruch, flächendeckend politische Bildung zu machen. Wir arbeiten hier nur zu viert. Wir haben versucht, die Jungen zu erreichen und wir haben versucht, die erwachsenen Multiplikatoren zu erreichen. Auf Letztere setzen wir. Wir sind auf Partner angewiesen. Die Medienhäuser müssten uns unterstützen. Das wäre der Idealfall. Man kann schlussendlich Leute nicht dazu zwingen, sich dafür zu interessieren.

Michèle Schilt: Sich nicht zu interessieren, gehört auch dazu.

Man hat also ein Recht darauf, sich politisch nicht zu bilden?
Michèle Schilt: Durchaus. So wie ich auch das Recht habe, Mathematik nicht zu mögen und sie nicht zu verstehen.

Marc Schoentgen: Ich stehe natürlich hinter der Schulpflicht bis 16 und finde, dass politische Bildung ihren Platz in der Schule hat. Darüber hinaus geht es aber nicht darum, dass die Menschen politisch „gebildet“ werden müssen. Dann wäre der Schritt zur Indoktrination und zur Gehirnwäsche nicht mehr weit.

Michèle Schilt: Natürlich, wenn man eine Wahlpflicht hat, müsste man eigentlich davon ausgehen können, dass jeder weiß, worum es dabei geht.

Marc Schoentgen: Das ist aber nicht der Fall. Definitiv nicht. Die Leute sollten wissen, warum gewählt wird und wen sie eigentlich wählen. Wähle ich den Premier oder den Bürgermeister? Ist es der Großherzog, der das Sagen hat oder die Abgeordnetenkammer? Wenn die Menschen sich diese Fragen stellen, dann sieht man die Notwendigkeit einer politischen Bildung.

Hören Sie diese Fragen tatsächlich? Ist das nicht dramatisch?
Marc Schoentgen: Ich denke, dass für junge Menschen, die selber noch nicht zur Wahl gehen, oft nicht ganz klar ist, was gerade gewählt wird. Die gewählten Politiker sind in den Medien präsent. Ich bin überzeugt, dass viele junge Menschen und Menschen, die nicht zur Wahl gehen, glauben, wir würden den Premier wählen. Es gibt ja tatsächlich Länder, in denen ein Premier oder ein Präsident direkt gewählt wird. Die Leute verfolgen in den Medien das Geschehen in Frankreich und Deutschland, wissen aber nicht, wie das System in Luxemburg funktioniert. Auch weil der Prozess nicht immer so klar ist und die Wahlen nur alle sechs Jahre stattfinden.

Sie sagten, junge Menschen wollen sofort Resultate sehen. Wie sieht es mit den Resultaten des ZpB aus?
Marc Schoentgen: Das Resultat, das wir sofort sehen, ist das Interesse von vielen Menschen an der Thematik politische Bildung. Das werten wir als Erfolg für unsere Stiftung. Auch die Tatsache, dass die jungen Leute an unseren Workshops teilnehmen und dass wir viele Nachfragen erhalten, werten wir als Erfolg. Das sagt uns, dass wir nicht an der Nachfrage vorbei arbeiten. Was sich nicht messen lässt, ist, wie nachhaltig unsere Arbeit ist. Was sich in den Köpfen der jungen Leute abspielt, können wir nicht sehen. Ob sie durch unsere Arbeit bessere Demokraten werden, weniger Populisten oder weniger radikal, das lässt sich nicht messen und wird sich nie messen lassen. Deutschland hat seit 70 Jahren eine Bundeszentrale für politische Bildung und trotzdem gibt es eine AfD, populistische Parteien sowie Rechts- und Linksradikalismus. Eigentlich dürfte es das nicht geben.

Michèle Schilt: Anders herum kann man fragen, was wäre, wenn es die Bundeszentrale für politische Bildung nicht gäbe.

Außer an den Wahlen, woran arbeiten Sie noch?
Michèle Schilt: Uns ist die Entwicklung von demokratischen Strukturen an den Orten, an denen Kinder und Jugendliche sind, ein großes Anliegen. Wir sprechen von einer demokratischen Schulkultur. Seit wir begonnen haben zu arbeiten, sehen wir, dass das Schülerkomitee einen anderen Stellenwert bekommen hat und die Klassenvertreter langsam, aber sicher anfangen, eine Bedeutung zu erlangen. Es gibt zwar Schülervertretungen, sie werden aber nicht adäquat genutzt. Weder von den Jugendlichen noch von den Erwachsenen. Das war eines der ersten Dinge, mit denen wir uns beschäftigt haben. Inzwischen gibt es regelmäßige Austauschtreffen von den Personen, die die Schülerkomitees begleiten. Alleine dass dort immer mehr Menschen auftauchen, zeigt, dass unsere Arbeit nicht völlig sinnlos ist.

Marc Schoentgen: Das heißt nicht, dass jede Schule basisdemokratisch werden will. Aber grundsätzlich ist in einer Reihe Schulen die Bereitschaft da, die Schüler enger einzubinden und sich Demokratie und Partizipation auf die Fahne zu schreiben.