Briten wollen nicht mehr sparen

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In Großbritannien wächst der Widerstand gegen die Sozialpolitik der Regierung. Eine umstrittene Reform der Sozialhilfe wird von gravierenden Problemen begleitet, sodass immer mehr Parlamentarier fordern, deren Umsetzung aufzuschieben.

In Großbritannien wächst der Widerstand gegen die Sozialpolitik der Regierung. Eine umstrittene Reform der Sozialhilfe wird von gravierenden Problemen begleitet, sodass immer mehr Parlamentarier fordern, deren Umsetzung aufzuschieben.

Von unserem Korrespondenten Peter Stäuber

Die Sparpolitik, die in Großbritannien seit 2010 verfolgt wird, gerät immer stärker in die Kritik. Neue Studien haben Details zu den Folgen für Geringverdiener offengelegt und die Regierung ist unter Druck, ihre umstrittene Sozialreform abzuschwächen. Manche Tories haben begonnen, für die Wirtschaftspolitik Labours zu plädieren, die auf die Ankurbelung der Wirtschaft durch Staatsausgaben zielt. Gleichzeitig wird immer offensichtlicher, was für nachteilige Folgen die vor sieben Jahren begonnene Sparpolitik hat.

Geringverdiener haben weniger

Nachdem das Haushaltsdefizit mit dem Finanzcrash von 2008 stark anwuchs, begann die konservativ-liberaldemokratische Regierung 2010 ein Sparprogramm, das die staatlichen Ausgaben stark einschränkte. Dass dies die Einkommen und Lebensqualität von Geringverdienern stark beeinträchtigte, war kaum überraschend und wurde im Laufe der Jahre durch verschiedene Studien belegt.

Jetzt hat die Menschenrechtskommission Equality and Human Rights Commission (EHRC) einen zusammenfassenden Bericht über die Auswirkungen der Steuer- und Sozialpolitik seit 2010 veröffentlicht. Das Ergebnis ist ernüchternd: Die 40 Prozent der Haushalte mit den niedrigsten Einkommen werden im Jahr 2021 rund 1.500 Pfund (1.680 Euro) weniger zur Verfügung haben als zehn Jahre zuvor. Bestimmte Bevölkerungsgruppen sind besonders stark betroffen: ethnische Minderheiten, alleinerziehende Väter und Mütter, Rentnerinnen und Rentner sowie Invalide.

Sterberate steigt

Eine Studie der medizinischen Fachzeitschrift „BMJ Open“, die die gesundheitlichen Auswirkungen der Sparpolitik untersucht hat, kommt zu einem ebenso niederschmetternden Resultat: In den ersten vier Jahren der Sparpolitik starben 45.000 Menschen mehr, als es ohne die Einsparungen der Fall gewesen wäre. Um die Sterberate auf das Niveau vor 2010 zurückzubringen, wären Ausgaben von über 25 Milliarden Pfund nötig, schreiben die Autoren.

Ungeachtet solcher Tatsachen versucht die Regierung derzeit, eine Sozialreform durchzudrücken, die den Empfängern von Transferleistungen erhebliche Probleme verursacht. Universal Credit (UC) versucht, mehrere Sozialleistungen zu einer Zahlung zusammenzufassen. Doch die Einführung des Systems wird von fundamentalen Problemen begleitet: Tausende Haushalte müssen bis zu zwölf Wochen auf ihr Geld warten, was zu einer rapiden Zunahme an Essensausgaben in den betroffenen Gebieten geführt hat. Frank Field, der Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Arbeit und Renten, bezeichnete UC als „nationalen Skandal“. Mehrere Tory-Abgeordnete haben sich den Forderungen der oppositionellen Labour-Partei angeschlossen, die Wartezeiten zu verkürzen und die Probleme zu bereinigen, bevor UC im ganzen Land ausgerollt wird.

Konservative rufen nach dem Staat

Das Umdenken bei manchen Konservativen geht jedoch weiter: Die Idee, der Wirtschaft mit staatlichen Investitionen unter die Arme zu greifen, stößt zunehmend auf Resonanz. Der für die Gemeinden zuständige Minister Sajid Javid etwa, bekannt als Thatcher-Verehrer, sprach sich für ein 50-Milliarden-Paket für den Wohnungsbau aus. Zwei weitere Abgeordnete plädierten ebenfalls für verstärkte Investitionen seitens des Staates.

Ob Finanzminister Philip Hammond in seinem Haushaltsplan, den er nächste Woche vorstellen wird, auf solche Vorschläge hören wird, ist fraglich. Aber allein die Tatsache, dass die Tories auf einmal eine solche keynesianische Wirtschaftspolitik vertreten, wie sie die Labour-Partei seit Jahren anrät, zeigt, wie sehr sich die ökonomische Debatte in den letzten Monaten verschoben hat – und wie sehr sich die Tories vor einem weiteren Vormarsch der Labour-Partei unter Jeremy Corbyn fürchten.