Tiefgreifende Neuformulierung

Tiefgreifende Neuformulierung

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Seit über zehn Jahren wird im Parlament an einer allgemeinen Verfassungsänderung gearbeitet. Als Ergebnis dieser parlamentarischen Arbeiten wurde 2009 ein erster Entwurf offiziell im Namen des zuständigen Verfassungsausschusses im Parlament als Gesetzesvorschlag eingebracht. Nach dem Gutachten des Staatsrates von 2012 arbeitet die Abgeordnetenkammer auf Ausschussebene weiter an einer überarbeiteten Version des Reformprojektes.

Eines ist inzwischen klar geworden: Aus einer ursprünglich geplanten groß angelegten Verfassungsrevision entwickelt sich der Textvorschlag zu einer tiefgreifenden Neuformulierung unseres Grundgesetzes. Luxemburg wird sich eine neue Verfassung geben. Der neue Textentwurf, der in den nächsten Wochen fertiggestellt werden wird, umfasst gegenüber der jetzigen Verfassung eine Mehrzahl an Änderungen.

Ohne das bestehende institutionelle Gefüge auf den Kopf zu stellen, beabsichtigt die neue Verfassung, die Charta der Grundrechte und Freiheiten auszubauen und das Verhältnis zwischen den Staatsgewalten klarer zu definieren.

Verfassungsmäßig macht Luxemburg einen Sprung vom 19. ins 21. Jahrhundert. Der zurzeit in Diskussion befindliche überarbeitete Textentwurf kann auf eine Verfassungsmehrheit (zwei Drittel der Abgeordneten) zählen. Er stellt den größtmöglichen gemeinsamen Nenner zwischen den verschiedenen politischen Kräften dar. In dieser Hinsicht ist das Ergebnis durchaus bemerkenswert.

Kompromisse werden geschlossen und dennoch stellt das neue Grundgesetz ein zusammenhängendes Gebilde dar.

Ein zeitgemäßer, klarer Verfassungstext ist seit der Einführung der Kontrolle der Verfassungskonformität der Gesetze eine absolute Notwendigkeit.

Die Tatsache, dass der Großteil unserer aktuellen Verfassung auf das Jahr 1868 zurückgeht, stellenweise sogar noch älter ist, zeigt, dass die Ausarbeitung einer modernen Verfassung überfällig ist.

Der Verfassungstext muss der politischen und gesellschaftlichen Realität entsprechen.

Neu in dem laufenden Prozess der Verfassungsrevision ist der Versuch, die Bürgerinnen und Bürger direkt in die Debatte miteinzubeziehen. Dies ist ein für Luxemburg einmaliger Vorgang und selbst für Europa eher eine Ausnahmeerscheinung.

Bürgerpartizipation, ein Experiment

Anstatt die neue Verfassung weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu redigieren und zu debattieren, wird im Vorfeld der Ausarbeitung des definitiven Verfassungsentwurfs die Bevölkerung in kontroversen Verfassungsfragen um ihre Meinung gefragt. Die Politik wäre gut beraten, die mehrheitliche Meinung der Wähler, wie sie im Referendum geäußert wird, auch voll und ganz zu respektieren. Alles andere wäre ein Hohn für die Demokratie.

Die LSAP hat diese Form der Bürgerpartizipation bei der Verfassungsrevision 2012 in die Diskussion gebracht und zu einer zentralen Forderung im 2013er Wahlprogramm gemacht. Gegen den Willen des konservativen Blocks von CSV und ADR hat die jetzige Dreierkoalition diese Idee aufgegriffen und ist im Begriff, sie zu verwirklichen.

Über die drei Referendumsfragen hinaus bietet die öffentliche Debatte, die ab März anläuft, die außergewöhnliche Gelegenheit, mit der Bevölkerung auch in ein Gespräch über die grundlegende Ausrichtung der neuen Verfassung zu kommen. Es ist zumindest vonseiten der LSAP ausdrücklich gewünscht, dass die Bürgerinnen und Bürger ihre Ideen, Vorschläge und Kritiken zum aktuellen Stand des Verfassungsentwurfs einbringen und eine breite Debatte über die Ausrichtung des Verfassungstextes stattfindet.

Am Ende liegt es am Parlament, als verfassungsgebendes Staatsorgan aus diesem demokratischen Prozess die sich aufdrängende Schlussfolgerungen zu ziehen.

Ein neuer Verfassungsentwurf, dessen sollte sich jeder bewusst sein, muss vorerst mit Zwei-Drittel-Mehrheit vom Parlament gestimmt werden. Nur wenn diese parlamentarische Hürde erfolgreich genommen ist, kann es nach einer Frist von mindestens drei Monaten zu einem zweiten, endgültigen Votum kommen. Die Regierungsparteien haben sich verpflichtet, diese zweite Abstimmung im Parlament durch eine Volksbefragung zu ersetzen. Dieses Referendum ist ausdrücklich in Artikel 114 der Verfassung vorgesehen.

Die Wähler werden also per Referendum, der diesmal einen entscheidenden Charakter hat, endgültig über die neue Verfassung für unser Land entscheiden, womöglich im Jahr 2017, zeitgleich mit den Kommunalwahlen. Erhält der Verfassungsentwurf eine Mehrheit bei den Wählern, kann die Verfassung in Kraft treten.

Fällt der Verfassungstext bei diesem Referendum durch, dann bleibt, womöglich für lange Zeit, die bestehende Verfassung gültig mit all ihren Ungenauigkeiten und Unzulänglichkeiten.

Jeder steht vor seiner Verantwortung, Politik und Bürger. Diese Verfassung wird ein gemeinsames Werk werden, welches in seiner Endfassung über eine breite Zustimmung verfügen sollte. Dies bedeutet Diskussionsfreudigkeit, Respekt der Ansichten der anderen und Kompromissbereitschaft.

Am 7. Juni wird ein erstes Etappenziel erreicht sein, die eigentliche Diskussion über die neue Verfassung geht aber über diesen ersten, wichtigen Termin hinaus.

Alex Bodry, LSAP-Fraktionspräsident, Vorsitzender des parlamentarischen Verfassungsausschusses

(Dieser Beitrag erschien erstmals am 26.2.2015 im Tageblatt)