Wirbel um „AKW-Havarie“

Wirbel um „AKW-Havarie“

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Ein defektes Atomkraftwerk. In der Ukraine. Die Nachricht war ein Schock am Mittag - wenn auch nur ein kurzer. Auch 28 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl ist ein Atomausstieg kein Thema.

Eine „Havarie“ in Europas stärkstem Atomkraftwerk? Um die Mittagszeit erreicht die Nachricht aus der Ukraine die Welt – und ganz kurz hält man den Atem an. Für einen Moment liegt der schwere Schatten der Tschernobyl-Katastrophe von 1986 wieder über Europa. Damals war der vierte Block explodiert, es gab Tausende Tote. Nun ein neuer Gau in der krisengeschüttelten Ex-Sowjetrepublik? Die sich in ihrem Osten im Krieg befindet? Nicht auszudenken.

Seinen ersten Arbeitstag muss sich der ukrainische Energieminister Wladimir Demtschischin völlig anders vorgestellt haben. Völlig unvermittelt spricht Regierungschef Arseni Jazenjuk bei der ersten Sitzung des neuen Kabinetts in Kiew von der „Havarie“ bei Saporoschschja, dem gewaltigen AKW.

„Nur ein Kurzschluss“

Demtschischin gibt bei einer eilig einberufenen Pressekonferenz schnell Entwarnung: kein Störfall, nur ein Kurzschluss. Ja, der dritte Block sei am Freitag notabgeschaltet worden. Aber alle Sicherheitssysteme hätten funktioniert. Akw-Betreiber Energoatom habe tags darauf umfassend informiert. Nein, es sei keine Radioaktivität ausgetreten.

Doch da war das Jazenjuk-Zitat vom „havarierten Atomkraftwerk“ schon um die halbe Welt gerast. Es sorgte für helle Aufregung.

„Ein zweites Tschernobyl“

Seit Monaten kommt die Ukraine nicht aus den internationalen Negativschlagzeilen: erst die russische Annexion der Halbinsel Krim, dann die blutigen Gefechte mit prorussischen Separatisten im Osten – und jetzt etwa ein zweites Tschernobyl? Die Bilder vom 70 Meter hohen Betonklotz mit dem rot-weißen Schlot gingen 1986 um die Welt. Nach der Katastrophe war eine Hülle gebaut worden, aber der sogenannte Sarkophag bröckelt.

Die vor dem Staatsbankrott stehende Ukraine ist auf Atomkraft angewiesen. Doch durch zwei abgeschalteten Blocks in Saporoschschja – ein Reaktor befindet sich in Reparatur – fehlen dem Land 3,1 Gigawatt an Strom. Die Kohle- und Gaskraftwerke können das Defizit nicht ausgleichen. Ihnen mangelt es schlicht an Brennstoff. Fünf Wärmekraftwerke im Osten des Landes haben gar nur noch Kohlevorräte für vier Tage, teilte der Staatskonzern Ukrenergo mit. Ohne den Bürgerkrieg wäre die Kohle aus dem Donbass im Osten gekommen.

Energiepolitisch am Limit

Ein Jahr nach Beginn der schweren Krise befindet sich Europas zweitgrößter Flächenstaat auch energiepolitisch am Limit. Immer häufiger kommt es zu Stromabschaltungen von Großabnehmern. In der ostukrainischen Millionenstadt Charkow wurden elektrisch betriebene Bus- und Straßenbahnlinien bereits vom Netz genommen: Energiesparen geht vor – und geht auf Kosten der von der Schwerindustrie geprägten Wirtschaft. Doch die Kapazitäten reichen nicht, zumal es mit Russland wiederholt zum Streit um Gas-Rechnungen kommt.

Nach dem Unfall in Tschernobyl schaltete die Ukraine alle Reaktoren des dortigen Typs ab. Doch immer noch sichern 15 weitere Blöcke mehr als 40 Prozent der Stromversorgung. Die Ex-Sowjetrepublik kann aber die Altlasten des Unglücks von 1986 nicht allein beseitigen.

Neuer Sarkophag in Tschernobyl

Der im Bau befindliche neue Sarkophag in Tschernobyl hat eine Finanzierungslücke von 615 Millionen US-Dollar. Zwar bewilligte die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung jetzt zusätzliche 350 Millionen US-Dollar. Doch woher der Rest kommt, ist unklar.

Bis heute sind weite Teile Weißrusslands sowie Regionen in der Ukraine und in Russland verseucht. Die radioaktive Strahlung in Tschernobyl war Experten zufolge etwa 500 Mal stärker als nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima 1945. Doch ein Ausstieg aus der Kernenergie ist in der Ukraine kein Thema. „Wie kann man bloß etwas so Nützliches infrage stellen? Wir sind froh, dass wir überhaupt Strom haben“, meinen dort viele Menschen. Dementsprechend unterkühlt war der Umgang mit der „Havarie“ in Saporoschschja: Den meisten ukrainischen Medien war sie nur ein paar Zeilen wert.

Die Erleichterung nach der Entwarnung war gewaltig. Und die Hoffnung, dass wirklich alle die Wahrheit gesagt haben.