„Wir brauchen Utopien“

„Wir brauchen Utopien“
(dpa)

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Am Samstag trifft sich mit Le Pen, Petry, Salvini und Wilders die Spitze der radikalen europäischen Populisten in Koblenz. Jean-Yves Camus forscht zu Rechtsextremismus. Mit uns spricht er über den Aufschwung der Populisten, wie über das Versagen der traditionellen Parteien.

Tageblatt: Worauf gründet der Aufschwung der radikalen Populisten?

Jean-Yves Camus

Jean-Yves Camus: Ihr letzter Aufschwung wurde von der Flüchtlingskrise verstärkt. Das alles geht aber weiter zurück. Zugrunde liegt die Unsicherheit vor einer multikulturellen Gesellschaft. In Frankreich dachte man lange, die aus nicht europäischen Ländern herbeigerufenen Arbeiter, würden, nachdem sie ihren Job erledigt haben, wieder in ihre „Heimatländer“ zurückkehren.

Natürlich lief das in keinem Land der Welt, egal zu welcher Epoche, so ab. Die Menschen werden in ihren „neuen“ Ländern heimisch. So hat sich eine homogene in eine multikulturelle Gesellschaft verwandelt. Wir hatten es plötzlich mit Neuankömmlingen zu tun, zu denen wir weder besondere historische noch kulturelle oder linguistische Verbindungen hatten. Und Einwanderung ist immer mit Angst verbunden. Dann kam die Globalisierung hinzu, mit der Verlagerung und dem Verlust von Arbeitsplätzen sowie einer Veränderung der Arbeitswelt.

In welcher Form?

Die Menschen arbeiteten nun für Unternehmen, deren Kapital nicht mehr der eigenen Nation zugeordnet werden konnte. Wieder ging ein Teil Orientierung verloren. Quasi von heute auf morgen kannten Industrie und Finanzen keine Grenzen mehr. Hier setzen die radikalen populistischen Parteien an. Sie versprechen eine Rückkehr zu mehr Protektionismus und zu Grenzen. Zudem gelten in unserer postmodernen Gesellschaft die alten Solidaritäten, die alten Gewissheiten der großen Parteien, der Gewerkschaften, der Sicherheit des Arbeitsplatzes und der Familie nicht mehr.
Das ist ein fundamentaler struktureller Wandel. In sehr kurzer Zeit fanden sich die Menschen als zersplitterte Individuen innerhalb eines neuen, von Ultraindividualismus geprägten Systems wieder. Aus wirtschaftlichen und gesellschaftlichen sowie aus Gründen der Identität imitiert in einem solchen System jeder jeden, jeder steht zu jedem in Konkurrenz. Produktivität, Erfolg, Gehalt wurden einzige Bemessungsgrundlage. Nur wer etwas produziert, ist etwas wert. Das ist sozialer Darwinismus in Reinform.

Welche Rolle spielen die Rechtspopulisten hier?

Die radikalen populistischen Parteien ziehen hieraus ihren Profit, indem sie andere Szenarien der Konkurrenz aufzeigen: Der französische Arbeiter konkurriert mit dem ausländischen, die wirtschaftlichen Interessen Frankreichs werden von seinen Nachbarn bedroht. Sie versprechen, die Menschen, das Land davor zu schützen. Es gibt eine Nachfrage danach, in geschützten Räumen zu leben. Also versprechen die Rechtspopulisten Grenzen zwischen den Staaten, Trennlinien zwischen Einheimischen und Fremden, nach denen diese nicht mehr dieselben Rechte hätten. Dazu kommt der Erschöpfungszustand der arrivierten Parteien, vor allem der Linken. Sie verkaufen keine Utopien mehr. Die Linke strebt nicht mehr danach, die Gesellschaft zu verändern. Sie bietet kein Projekt der Transformation mehr an, sondern ein Projekt der Verwaltung innerhalb eines festgesteckten Rahmens. Daraus ist viel Enttäuschung entstanden.

Es fehlt also das politische Projekt?

Das geht sogar weiter. Marine Le Pen richtete sich vor zwei Jahren an die Menge und sagte: Wir werden die Geschichte ändern. So etwas macht sonst keiner in den Mitteparteien. In den 1980ern hieß es noch, die Geschichte ist vorbei, es gibt keine Ideologien mehr. Dann kommt Marine Le Pen und behauptet das Gegenteil: Dass Veränderungen möglich sind, dass man die institutionellen, sozialen, wirtschaftlichen Paradigmen unserer Gesellschaft umbiegen kann. Damit spricht man nicht die Vernunft an. Das zielt auf den Bauch, auf das Herz der Leute. So etwas geht natürlich nicht ohne eine gewisse Vorstellungskraft. Aber brauchen wir nicht gerade das in der Politik, das Utopische, das Imaginäre, um der Gesellschaft einen Sinn zu geben? Ich glaube, ja.

Die Rechtspopulisten haben ihr verstaubtes Image der Vergangenheit abgelegt. Sind sie vielleicht sogar die modernsten Parteien?

FPÖ-Chef Strache rappt in Österreich im Wahlkampf. Vor 20 Jahren wäre das kaum vorstellbar gewesen. Alle diese Parteien beherrschen die sozialen Medien aus dem Effeff. Dazu haben sie mit der Vergangenheit gebrochen. Sie reden von der Gegenwart. Von den 1950ern bis in die 1970er hinein ging es ihnen um die Erinnerung: an den Faschismus, an das „alte“ Frankreich, an den Zweiten Weltkrieg.

Heute reden sie von Globalisierung, Trump, Brexit, Finanzmärkten. So sprechen sie vor allem jüngere Generationen an. Die Angstmacher von früher haben sie zumindest aus ihren offiziellen Programmen gestrichen, von Antisemitismus ist da keine Rede mehr. Der Front national wäre nicht so weit gekommen, hätte er an den Äußerungen von Jean-Marie Le Pen über die Juden und die Shoah festgehalten.

Sie reden nicht mehr von der Minderwertigkeit verschiedener Rassen, sondern von der Konfliktbeladenheit einer multikulturellen Gesellschaft. Statt zu sagen, Frankreich ist ein katholisches Land, wo nur die Katholiken Rechte haben sollen, reden sie von Laizität. Das sind fundamentale Veränderungen.

Liegt dem Pragmatismus zugrunde? Nach der Losung: Wieso sich mit Antisemitismus abgeben, wenn man doch die Islamophobie hat …

Auf den judeo-bolschewistischen Komplott kann man sich ja nicht mehr berufen … In ihrer binären Herangehensweise haben sie den Islamismus anstelle des Kommunismus gestellt. Man muss aber auch sagen, dass der radikale Islam eine Strategie der Konfrontation gewählt hat: Entweder man bekennt sich zum Islam oder nicht. In letzterem Fall ist man ein Ungläubiger, ein Feind. Schauen wir uns nun den niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders an. Wilders sagt von sich: Ich bin der Beschützer der Frauen, der Atheisten, der Homosexuellen, der Juden. Und wer bedroht diese Menschen? Das sind nun einmal die radikalen Islamisten. So haben die Rechtspopulisten die alten Codes der Sozialdemokratie aus den 1960ern nicht nur geknackt, sondern für sich gewonnen.

In Frankreich und Deutschland stehen mit Marine Le Pen und Frauke Petry zwei Frauen an der Spitze der rechtspopulistischen Parteien. Was bedeutet das?

Auch in Norwegen, Dänemark oder etwa der Schweiz leiten oder leiteten Frauen Parteien vom rechten Rand – mit enormem Einfluss auf das Wahlverhalten. Nehmen wir das Beispiel Front national. Unter Jean-Marie Le Pen war der FN für Frauen kaum wählbar. Der Gender Gap lag bei zwölf Prozent. Mit Marine Le Pen hat sich dieser Unterschied, der das Verhältnis misst zwischen Männern und Frauen, die die Partei wählen, auf drei Punkte verringert. Gewählt werden sie besonders von Frauen in schlecht bezahlten Berufen, die oft Schichten arbeiten, dazu noch häufig alleinerziehend sind. Sie nutzen deren Ängste, sowohl die kulturellen wie die physischen. Dementsprechend wurden auch die Ereignisse aus der vorvergangenen Kölner Silvesternacht instrumentalisiert, um folgendes Signal auszusenden: Der muslimische Immigrant sei quasi naturgemäß der Feind der Frauenrechte, die multikulturelle Gesellschaft vor allem für Frauen eine Gefahr. Diese Parteien sagen den Frauen, dass all die erkämpften Rechte, all die Gleichberechtigung, all der Respekt, alle Freiheiten vom Islam bedroht werden. Und das funktioniert, wie Wilders zeigt.

Die Europäische Politik ist nicht immer ruhmreich. Am Dienstag wählte das EP-Parlament einen neuen Präsidenten unter Umständen, die vielfach Kritik hervorriefen. Für die Rechten ein gefundenes Fressen, oder?

Was vor allem instrumentalisiert wird, ist, dass dieses Europa seinen Wählern kein Narrativ bieten kann, was es heißt, Europäer zu sein. Dazu ist Europa auf der internationalen politischen Bühne keine Supermacht. In der Syrienkrise etwa wurde Europa an den Rand gedrängt. Man muss auch objektiv fragen dürfen, ob sich von diesem Europa eine positive Bilanz ziehen lässt. Oder ob man zugeben muss, dass es Europa in Fragen der gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, der gemeinsamen Außenpolitik gar nicht gibt. Schauen Sie sich an, wie Trump mit Europa umgeht. Als sei es nicht der Rede wert, als sei es nicht Teil der Geschichte.

Tragen unsere Politiker eine Mitschuld an diesen Missständen?

Es ist eine Wahl, die jeder für sich treffen muss. Wer vom Postulat ausgeht, der größtmögliche eigene Spielraum sei, sich als Verwalter auszugeben, macht einen Fehler. Politiker sein bedeutet nicht, Wirtschaftsprüfer oder Verwalter eines Haushaltes zu sein. Ein Politiker muss seiner Nation einen kollektiven Kurs vorgeben können.

Wieso ließen Mitteparteien den Rechten so viel Raum?

Das hat mehrere Gründe. Sie haben es versäumt, ihren Wählern zuzuhören, ihre Ängste ernst zu nehmen. Dann haben sie den gigantischen strategischen Fehler gemacht, zu denken, rechte Parteien gehörten der Vergangenheit an. Ob das übertriebenes Selbstvertrauen war oder bereits Arroganz, kann ich nicht beurteilen. Zudem sind sie sehr naiv, wenn sie die Ideen der Rechten einfach nachplappern. So bekommt der Wähler den Eindruck, dass die Rechten ja gar nicht so falsch liegen können, wenn jetzt sogar die „Großen“ deren Ideen wiederholen – und schlussendlich wählen sie dann doch lieber das Original. Das Phänomen der Rechten wurde einfach nicht wirklich ernst genommen – und wird es immer noch nicht.