„Wenn nicht jetzt in die Türkei, wann dann?“

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Vizepremier Etienne Schneider ist in der Türkei. Eine Wirtschaftsmission zu einem brisanten Zeitpunkt. Der Streit mit der EU eskaliert und das Land steckt im Wahlkampf. Im Interview nimmt Schneider Stellung.

Etienne Schneider ist seit Sonntag in der Türkei. Es ist eine der regelmäßig stattfindenden Wirtschaftsmissionen. Nur kommt sie gerade jetzt zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU waren noch nie so schlecht wie zurzeit – und die Türkei steckt mitten im Wahlkampf. Wir berichteten bereits gestern von der Reise (hier geht es zum Text: Reise zur Unzeit). Heute nimmt der Vizepremier Stellung im Tageblatt-Interview.

Tageblatt: Man könnte meinen, es wäre gerade nicht der beste Moment für eine Wirtschaftsmission in die Türkei. Die Beziehungen zur EU waren noch nie so schlecht, dazu steckt das Land mitten in einem Wahlkampf um ein umstrittenes Verfassungsreferendum…

Etienne Schneider: Die Wirtschaft ist das einzige Druckmittel, das uns bleibt. Wenn also nicht jetzt in die Türkei – wann dann? Die Türkei liegt wirtschaftlich am Boden. Die Inflation liegt bei zehn Prozent. Die türkische Lira hat sich gegenüber dem Euro um 40 Prozent abgewertet. Die Wirtschaft in der Türkei ist in den Nullerjahren sehr stark gewachsen. Das ist nicht mehr der Fall. Die Regierung in Ankara sagt zwar nun, sie würde nach neuen Wegen suchen, um aus dem Loch herauszukommen, welche das allerdings sein sollen, dazu gibt es keine Informationen …

Haben Sie bei Ihren Begegnungen die Menschenrechtssituation in der Türkei angesprochen?

Ich habe die Botschaft heute dreimal klar und deutlich übermittelt, in Fernsehinterviews und auch im Vier-Augen-Gespräch mit meinem Amtskollegen Nihat Zeybekci: Dass die europäischen Staaten immer besorgter sind über die Entwicklungen in der Türkei, wo der Rechtsstaat abgebaut, die Bürgerrechte beschnitten, die Presse drangsaliert wird. Wenn das so weitergeht, wird der wirtschaftliche Schaden für die Türkei beträchtlich sein.

Haben Sie da nur für Luxemburg gesprochen oder auch die Eindrücke Ihrer europäischer Kollegen übermittelt?

Ich habe klipp und klar gesagt, dass viele EU-Staaten gerade die Lust auf eine weitere Zusammenarbeit mit der Türkei verlieren. Auch die Nazi-Vergleiche, die den Niederlanden und Deutschland aus Ankara kommend aufgedrückt wurden, sind ein No-Go. So etwas geht nicht! Auch das habe ich hier vermittelt. Ich habe meinen politischen Gesprächspartnern ans Herz gelegt, besonders in dieser Angelegenheit zu deeskalieren. Die türkische Wirtschaft hängt zu 50 Prozent an der Europäischen Union. Wenn sie es jetzt noch nicht verstehen, wird es sie teuer zu stehen kommen.

Merken Sie diese Bedenken auch im Konkreten, also bei Gesprächen mit Geschäftspartnern etwa?

Klar, ich bekomme langsam, aber sicher Probleme, Betriebe und Unternehmen zu motivieren, in den Handel mit der Türkei einzusteigen, also dort zu investieren. Sichere Zukunftsaussichten, zu wissen, was in einem Land passieren wird sowie die Stabilität eines Staates – das sind die Grundbedingungen eines jeden Investors an ein Land. Die Türkei erfüllt diese immer weniger.

Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Gesprächspartner diese Bedenken ernst nehmen?

Nicht immer. Im Vier-Augen-Gespräch weist mein Amtskollege zum Beispiel darauf hin, dass sich die Aufregung nach dem Verfassungsreferendum zum Präsidialsystem am 16. April wieder legen wird. Dann gehe alles wieder zurück zur Normalität.

Ist die AKP-Spitze gar nicht nervös? Alle Prognosen sagen ein sehr knappes Wahlergebnis voraus …

Nein, zumindest Nihat Zeybekci gibt sich sehr siegessicher.

Aha? Das passt nicht wirklich zum ganzen Gehabe um die Auftritte türkischer Politiker in Europa in den vergangenen Wochen …

Nein, ich weiß auch nicht, woher diese Sicherheit kommt. Ich kann nur hoffen, dass die Wahlen normal ablaufen werden. Dass, falls die AKP es schafft, sie es auch auf einem normalen Weg schafft.

Sie reden dort auch mit türkischen Geschäftsleuten. Wie ist die Stimmung unter denen?

Einige wirken in der Tat eingeschüchtert. Erdogan und die AKP versuchen gerade, besonders diese Schichten zu einem Ja im Referendum zu bewegen. Menschen aus ländlicheren Regionen, die in bescheideneren Verhältnissen leben, haben ja tatsächlich vom wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen Jahre profitiert. Das rechnen viele Erdogan hoch an. In den Städten, besonders in Istanbul und besonders in Business-Kreisen, ist das anders. Genau diese Leute sollen nun mit Steuergeschenken geködert werden. So wurde kürzlich die Steuer auf Yachten und Boote runtergeschraubt – von 30 Prozent auf jetzt noch ein Prozent. Ich habe aber nicht das Gefühl, dass sich die Zielpersonen dieser Steuermaßnahmen besonders beeindrucken lassen davon.

Nach dem Putschversuch hat die türkische Regierung hunderte Betriebe quasi konfisziert, da sie angeblich von Gülen-nahen Managern geführt wurden, und die Gülen-Leute wiederum von Ankara für den Putsch verantwortlich gemacht werden. Auch das dürfte das geschäftliche Vertrauen in die Türkei nicht gerade stärken, oder?

Nein, natürlich nicht. Und das Beste ist: Jetzt bieten sie diese Unternehmen feil, wollen sie an Investoren verkaufen. Da herrschte tatsächlich der Glaube, so eine Menge Geld verdienen zu können – aber wer bitteschön kauft denn ein Unternehmen, das zuvor enteignet wurde? Vor allem Europäer tun das nicht. Da werden Erinnerungen wach an die Nazi-Zeit und an die jüdischen Unternehmen, die damals erst konfisziert, dann veräußert wurden.

Haben Sie jemals daran gedacht, diese Reise wieder abzusagen?

Was hätte uns eine Absage denn gebracht? Einziges Ergebnis eines solchen Schrittes wäre ein Streit zwischen Luxemburg und der Türkei gewesen. Womit auch keinem geholfen wäre. Vor allem, da wir ja, wie schon erwähnt, so wenigstens die Möglichkeit behalten, uns in der Türkei Gehör zu verschaffen.