„Tickende Zeitbomben“

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Der nicht geräumte Giftmüll im grenznahen Ottange ist nicht das einzige Umweltproblem, über das man in Lothringen nicht gerne spricht. Insbesondere beim Thema Schwerindustrie scheinen die Behörden zugeknöpft.

Wo einst Öfen brannten und Stahl kochte, wo einst Arbeiter Tag für Tag zu Tausenden geschäftig in die Werke strömten, ist heute Stille eingekehrt. Luxemburgs französische Nachbarregion Lothringen hat in den vergangenen Jahren einen tiefgreifenden Strukturwandel durchlebt. Der Rückgang der weitverbreiteten Schwerindustrie hat nicht nur die Arbeitslosigkeit auf zuletzt mehr als zehn Prozent anschwellen lassen, er hat auch in der Landschaft tiefgreifende Spuren hinterlassen.

Während Lothringens verlassenen Halden mit ihren stillstehenden Riesenbaggern für jeden sofort sichtbar sind, bleibt ein Teil des industriellen Erbes auf den ersten Blick verborgen. Die Verschmutzung der Böden, des Grund- und Oberflächenwassers und der Luft auf und um Industriebrachen ist ein Thema, das lange Zeit, wenn überhaupt, nur am Rande in der Öffentlichkeit diskutiert wurde. Der Ärger um den Giftmüll im grenznahen Ottange (wir berichteten) zeigt allerdings, dass viele Menschen informiert sein wollen, wenn in ihrer Umgebung gefährliche Stoffe verrotten.

Unstrittig ist, dass man in Lothringen in den vergangenen Jahren Umweltbelangen zunehmend Raum gibt. Unter dem 1998 gegründeten Verbund „Umweltnetzwerk Lothringischer Unternehmen“ informieren neben staatlichen Stellen auch Kammern und Verbände immer offensiver über Umweltrisiken und ökologische Alternativen. Besonders aktiv zeigte sich dabei die Kammer der Kleinunternehmer und Künstler (CMA). Unter Federführung ihres Umweltbeauftragten Jean-François Tonnellier. In zahlreichen Aktionen unterstütze die CMA ihre Verbandsmitglieder etwa mit Zuschüssen für sparsamere Waschmaschinen, beim Abtransport von Schadstoffen oder mit kostenlosen Umwelt-Informations-Hotlines.

Ottange kein Einzelfall

Besonders bei Umweltproblemen im Zusammenhang mit der Schwerindustrie zeigen sich in der Vergangenheit sowohl Unternehmen als auch Behörden weitaus weniger transparent. „Mir scheint, es gibt hier eine eingeschworene Verbindung aus Unternehmern, lokalen Politikern und dem Staat“, so der Eindruck von Gerard Landgragin, Entsorgungs-Experte beim Lothringischen Umweltdachverband Mirabel. So ist es auch nicht verwunderlich, dass man sich Informationen zu verwaisten Industriebrachen und anderen Umweltrisiken in Lothringen mühsam zusammensuchen muss. Im an das Saarland angrenzende lothringischen Merten erfuhren Anwohner erst durch Recherchen der Saarbrücker Zeitung, dass vor ihrer Haustür auf einem ehemaligen Industriegelände ebenfalls Jahre lang hochgiftige Säuren und brennbare Pulver lagerten.

Landgragin schätzt, dass es alleine im Département Moselle mehr als ein Dutzend solcher „tickende Zeitbomben“ gibt. Als das Tageblatt im Zuge dieser Recherche bei der Präfektur in Metz nach weiterführenden Dokumenten anfragte und um eine Stellungnahme des Präfekten bat, kam nur eine kurze Mail der Pressestelle zurück. Darin enthalten waren Verweise zu den ohnehin öffentlich einsehbaren Informationen.

Fortschritte im Austausch

„Es ist nicht zu akzeptieren, dass Umweltprobleme hierzulande noch immer am grünen Tisch diskutiert werden“, ärgert sich Umweltingenieur Landgragin. Transparenz sei das Mindeste, was man den Bürgern umliegender Gemeinden schuldig sei. Das sei bei weitem keine freiwillige Aufgabe, sondern viel mehr Gesetz, so der Experte. Schließlich verpflichte die Aarhus-Konvention Behörden, Bürger umfassend über Umweltbelange zu informieren. Landgragin steht mit diesem Appell nicht alleine da. Seit Jahren schon fordern auch im benachbarten Saarland Bürgeriniativen wie „Saubere Luft“ und Umweltverbände wie Bund und Nabu, rechtzeitig und umfassend über Umweltprobleme in Lothringen informiert zu werden. Die Kritik sowohl von deutscher als auch von luxemburgischer Seite: Vor allem über Störfälle im Atomkraftwerk Cattenom werde oft verspätet und bruchstückhaft informiert, ähnlich verhalte es sich über Umweltprobleme im Zusammenhang mit der von der Firma Total betriebenen Chemieplattform in Carling.

Dass solche Forderungen nach mehr Offenheit nicht ungehört bleiben, zeigt sich in ersten Erfolgen für die Deutschen: Seit 2015 tauschen sich nicht nur saarländische und lothringische Fachbeamte regelmäßig über grenzüberschreitende Umweltrisiken aus. Saarländer sind seit kurzem auch im Umwelt-Begleitausschuss der Chemieplattform Carling (CSS) vertreten. Als jüngst eine Erweiterung der Anlagen anstand, konnten Bürger des grenznahen Völklingen außerdem einen Teil der dazugehörigen Unterlagen in deutscher Sprache in ihrem Rathaus einsehen.

(Von Robert Schmidt und Bénédicte Weiss)