Obama enttäuscht Arbeiterstadt

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Das Stahl- und Kohlerevier im Osten Ohios war eine Hochburg der US-Demokraten. Heute wird Barack Obama selbst von Gewerkschaftern nur lau unterstützt.

Federnden Schrittes eilt der Präsident die Gangway herunter. Rund 12.000 Anhänger, die sich an diesem für Ende Oktober ungewöhnlich warmen Abend auf dem Flughafen Burke am Ufer des Lake Erie in Cleveland eingefunden haben, empfangen ihn mit Ovationen. Barack Obama wirkt erstaunlich fit am Ende seines 48-Stunden-Marathons, der ihn durch sechs Swing States, zu einem Auftritt in Jay Lenos „Tonight Show“ nach Los Angeles und zur vorzeitigen Stimmabgabe in seine Heimatstadt Chicago geführt hat. Nur seine Stimme hat gelitten. „Ich brauche euch, Ohio!“ ruft oder vielmehr krächzt Obama ins Mikrophon.

Es ist keine Übertreibung. Seit 1960 hat der Sieger in Ohio immer die Präsidentschaftswahl gewonnen. Auch 2012 führt der Weg ins Weiße Haus nach Ansicht der meisten US-Politexperten über den Bundesstaat im Nordosten des Landes und seine 18 Wahlmänner-Stimmen. Ohio mit seinem 11,5 Millionen Einwohnern wird oft als „Amerika im Kleinformat“ bezeichnet, als Mikrokosmos der gesamten Nation. Es gibt Industrie und Landwirtschaft, die Großstädte Cleveland und Cincinnati, ausgedehnte Suburbs und unzählige kleine Dörfer.

Stahlarbeiter sind enttäuscht

In Ohio wird deshalb besonders verbissen um jede Wählerstimme gerungen. Hurrikan Sandy hat die Kadenz in den letzten Tagen ein wenig gebremst. Sowohl Präsident Obama wie auch sein republikanischer Herausforderer Mitt Romney sagten Auftritte ab. Doch im Fernsehen tobte die Schlacht unvermindert weiter, denn in weniger als einer Woche wird gewählt. In den meisten Umfragen in Ohio führt Obama knapp. Doch der Präsident muss kämpfen – denn auch in demokratischen Hochburgen sind viele von ihm enttäuscht.

Zum Beispiel in Steubenville am Ufer des Ohio River, ganz im Osten des Bundesstaats. Im lokalen Büro der Stahlarbeiter-Gewerkschaft sitzt deren Präsident Ernie Gambellin an seinem Schreibtisch. Auf die Frage, ob er hinter Obama steht, zögert er erst und sagt dann: „Die Vereinigten Stahlarbeiter unterstützen Obama.“ Der Verweis auf den nationalen Dachverband, die Tonalität, sein Gesichtausdruck und seine Körperhaltung sprechen Bände. „In dieser Gegend ist man nicht besonders glücklich darüber“, gibt Gambellin zu.

Dean Martins Heimatstadt

Seit April ist der 50-Jährige Präsident der Stahlarbeiter-Sektion von Steubenville – oder vielmehr von ihren traurigen Überresten. Ganze 200 Mitglieder zählt die Gewerkschaft noch. 1939, als die Stahlwerke am Ohio River auf Hochtouren liefen, waren es 12.000. Damals zählte die Stadt knapp 40.000 Einwohner, heute sind es noch etwa halb so viele. Benannt wurde sie nach General Friedrich von Steuben, der im Unabhängigkeitskrieg die zerlumpte Armee von George Washington mit preussischer Disziplin auf Vordermann gebracht hatte.

Der industrielle Aufschwung lockte um die Jahrhundertwende zahlreiche Einwanderer aus Italien in die Stadt mit dem deutsch-französischen Namen. Zu ihnen gehörten die Eltern des berühmtesten Sohnes von Steubenville. Er hieß Dino Crocetti und machte als Dean Martin eine Weltkarriere als Sänger, Schauspieler und Entertainer. In seiner Biographie kann man seinen abenteuerlichen Werdegang in der damals boomenden Stadt nachlesen. Heute macht Downtown Steubenville einen verwahrlosten Eindruck. Viele Geschäfte sind seit Jahren zu. Man glaubt, den Häusern beim Verfall zusehen zu können.

Mit dem Niedergang der amerikanischen Schwerindustrie ging es mit Steubenville bergab. Keine Region in den USA hat in den letzten 30 Jahren mehr Einwohner verloren. Noch 2008 aber seien alle Fabriken in Betrieb gewesen, betont Ernie Gambellin, dessen Vorfahren ebenfalls aus Italien stammen. Die Große Rezession gab der kranken Industrie den Rest. „Wir haben Mitglieder, die seit vier Jahren ohne Arbeit sind“, klagt der Gewerkschaftsboss. Heute laufe nur noch ein Werk, in dem Koks aus Steinkohle hergestellt wird.

Obamas „Krieg gegen die Kohle“

Kohle ist neben Stahl das zweite Standbein der Region – und ein weiterer Grund, warum sich Barack Obama in dieser einstigen Bastion der Demokraten schwer tut. Überall findet man Schilder, auf denen dem Präsidenten ein „Krieg gegen die Kohle“ vorgeworfen wird. Grund sind die von seiner Regierung erlassenen schärferen Umweltvorschriften. Ein relativ neues Kohlekraftwerk unweit von Steubenville ist deshalb von der Schließung bedroht.

Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Eine noch größere Bedrohung für die Kohle ist das billige Schiefergas, das in den letzen Jahren einen explosionsartigen Boom erlebt hat. Auch die Behörden von Steubenville hoffen auf das Gas, das mit der umstrittenen Fracking-Methode gefördert wird. Rund 3000 neue Jobs sollen entstehen, heißt es im Stadthaus. Bei den Stahlarbeitern überwiegt die Skepsis: „Gas kann nicht alle verschwundenen Jobs ersetzen“, sagt Ernie Gambellin. Ohnehin kämen die Arbeiter auf den Bohrfeldern häufig aus anderen Bundesstaaten. „Gewerkschaften sind dort nicht erwünscht.“

Rettung der Autoindustrie

Für Barack Obama sind die Perspektiven im Jefferson County, zu dem Steubenville gehört, deswegen nicht rosig. Schon 2008, im Jahr seines glanzvollen Triumphs, gewann er hier nur mit wenigen Dutzend Stimmen Vorsprung auf John McCain. In diesem Jahr könnte der Bezirk auf die Seite von Mitt Romney kippen. Gewerkschaftschef Gambellin aber wird den Präsidenten letztlich wohl doch und ohne Enthusiasmus wählen. Obama habe wenigstens eine Vorstellung vom Gesundheitswesen, „obwohl ich nicht weiss, ob sie richtig ist“. Und ja, die staatliche Rettung der Autoindustrie sei „eine gute Sache“.

Sie ist das wohl beste Argument, das Barack Obama in Ohio in die Waagschale werfen kann. Viele Medienleute pilgern derzeit nach Lordstown im Industriegürtel von Ohio. Dort befindet sich eine Fabrik von General Motors, die akut von der Schließung bedroht war. Heute läuft sie auf Hochtouren, 4500 Beschäftigte bauen den Chevrolet Cruze, ein Modell der Mittelklasse. In Lordstown und Umgebung überwiegen die Obama-Schilder in den Vorgärten der Einfamilienhaus-Siedlungen gegenüber jenen von Romney deutlich.

Demokraten beim „Early Voting“ vorne

Bei seinem Flugplatz-Auftritt in Cleveland attackiert Obama seinen Rivalen, weil dieser die Autobauer in den Konkurs gehen lassen wollte. Der Präsident erinnert seine Anhänger daran, dass „einer von acht Jobs in Ohio“ von der Autoindustrie abhängig sei. Das Land soll nach seiner Vorstellung als Produktionsstandort gestärkt werden („Made in America muss wieder ein Markenzeichen werden“). Und er ruft dazu auf, frühzeitig ins Wahllokal zu gehen, wie er es vorgemacht hat. Eine möglichst große Wähler-Mobilisierung soll ihm den Sieg in Ohio sichern.

Bislang scheint die Rechnung aufzugehen. Gemäß Obamas Wahlkampfteam beteiligen sich deutlich mehr Demokraten als Republikaner am „Early Voting“. In Steubenville hofft man derweil auf eine bessere Zukunft. Es gebe Versuche, die Stahlproduktion wiederzubeleben, sagt Ernie Gambellin. „Wir haben ein neues Stahlwerk, es soll dafür Interessenten geben.“ Letztlich aber weiss er, dass dies nur eine Hoffnung ist. So wie jene von Barack Obama, in Ohio zu gewinnen und im Weißen Haus bleiben zu können.