Massaker bringt Obamas Strategie ins Wanken

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Erst die Koran-Verbrennungen durch US-Soldaten, nun das Massaker an 16 Zivilisten: Schlimmer könnte es zwischen den USA und Afghanistan kaum stehen. US-Präsident Obamas Pläne für das künftige Verhältnis zu dem Land am Hindukusch, so fürchten viele, sind akut bedroht.

Die Nachricht von dem Massaker des US-Soldaten an 16 afghanischen Zivilisten war gerade ein paar Stunden alt, da schaltete sich US-Präsident Barack Obama höchstpersönlich ein. Und auch Verteidigungsminister Leon Panetta griff zum Telefon, um Präsident Hamid Karsai ebenfalls sein tiefstes Bedauern über das Blutbad zu übermitteln. Die rasante Reaktion von ganz oben hatte gute Gründe: Seit den Koran-Verbrennungen durch US-Soldaten steht es noch schlechter um das ohnehin schwierige Verhältnis zwischen Kabul und Washington als zuvor. Folgt der Krise nun Chaos mit ungewissem Ausgang?

Die US-Regierung scheint hochnervös. Noch, so verriet ein hoher US-Beamter der „Washington Post“, würden die Verantwortlichen nicht austicken. „Aber man muss schon komplett ahnungslos sein, um nicht anzunehmen, dass das das Schlimmste war, was passieren konnte.“ Das Massaker „befeuert die absolut schlimmsten Ängste und stereotypen Vorstellungen“, sagte er. Traurige Ironie, dass der Amokläufer der „New York Times“ zufolge ausgerechnet einer Einheit angehörte, die das Vertrauen von Stammes- und Dorfältesten gewinnen sollte.

In den vergangenen Wochen und Monaten hatte die Obama-Regierung ihre Pläne ausgebreitet, um den über ein Jahrzehnt währenden Krieg endlich hinter sich zu lassen. Dieses Jahr sollte die Ausbildung der afghanischen Soldaten für Kampfeinsätze beschleunigt werden. Gleichzeitig hoffte Washington, die Taliban an den Verhandlungstisch zu bringen. Nun wächst die Befürchtung, die radikalen Islamisten könnten nach dem Massaker wieder Oberwasser bekommen.

Zähe Verhandlungen

Nach monatelangen, zähen Verhandlungen zwischen Kabul und Washington waren zudem beinahe alle Hürden für einen Bündnisvertrag genommen. Darin sollte das Verhältnis beider Staaten festgezurrt werden, wenn 2014 alle Kampftruppen das Land verlassen haben werden.

Das Abkommen sollte es den USA unter anderem erlauben, auch jenseits des Datums Kräfte für den Anti-Terror-Kampf am Hindukusch zu stationieren. Die US-Regierung hatte darauf gesetzt, den letzten strittigen Punkt – ob Spezialeinheiten nächtliche Razzien gegen Terrorverdächtige ausführen dürfen – bis zum Nato-Gipfel im Mai auszuräumen. Nach dem Blutbad in der Provinz Kandahar gilt eine Einigung nun als fraglich. „Das ist der schlimmste Fall für uns und unser fortwährendes Engagement“ in Afghanistan, sagte der hohe Regierungsbeamte. „Einfach schrecklich.“

„Raus aus Afghanistan“

In den USA werden unterdessen die Rufe lauter, das leidvolle Kapitel Afghanistan-Krieg schneller als bislang geplant abzuschließen. Nach einer am Montag veröffentlichten Umfrage der „Washington Post“ will mehr als die Hälfte der Amerikaner den Abzug des US-Militärs vom Hindukusch, selbst wenn die afghanischen Sicherheitskräfte noch nicht voll einsatzbereit sind.

Und selbst bei den Republikanern wachsen Zweifel: Der Erhebung zufolge findet erstmals die Hälfte der Konservativen, das Ergebnis sei den Krieg nicht wert gewesen. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine erhebliche Anzahl junger Amerikaner ihr Leben verlor oder verletzt wurde bei einer Mission, die, wie wir lernen mussten, nicht machbar ist“, räumte am Sonntag nachdenklich der Bewerber um die republikanische Präsidentschaftskandidatur, Newt Gingrich, ein.

Nicht der erste Vorfall

Ob Irak oder Afghanistan – im Pentagon und im Weißen Haus weiß man nur zu gut, wie schwer ausrastende Soldaten schaden können. 2010 töteten US-Soldaten ebenfalls in der Provinz Kandahar drei Zivilisten. Ein Militärgericht befand den Anführer des Mordes für schuldig. Ein Video, in dem Soldaten auf die Leichen mutmaßlicher Aufständischer urinieren, löste wütende Proteste aus. Im Irak töteten 2005 Marineinfanteristen 19 Zivilisten, darunter Frauen und Kinder. Der Anführer des Trupps, Frank Wuterich, wurde degradiert, kam aber ohne Haft davon. Erst vor zwei Tagen starben in Ost-Afghanistan vier Zivilisten im Geschosshagel aus Nato-Helikoptern. 12.00 Menschen in der Provinz Kapisa gingen daraufhin protestierend auf die Straße.

Für Militärexperten sind Blutbäder wie das vom Sonntag auch einfach Zeichen, dass die jahrelangen Kriegseinsätze einfach zu viel sind für die Truppe. Der Amokschütze, der auf dem Militärstützpunkt Lewis-McChord im US-Staat Washington stationiert ist, soll bereits drei Einsätze im Irak und einen in Afghanistan hinter sich haben.