Juncker unter Druck

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Seit gut zwei Jahren ist Jean-Claude Juncker Chef der EU-Kommission. Es sind schwierige Zeiten – erst recht für einen eingefleischten Europäer wie Juncker. Die Krisen der Gemeinschaft treffen ihn ganz persönlich.

„Europa den Bürgern wieder näher bringen“: Als Jean-Claude Juncker am 1. November 2014 das Amt als EU-Kommissionspräsident antritt, weckt er gewaltige Erwartungen. Der Nachfolger des politisch blassen Portugiesen José Manuel Barroso will dem von der Finanzkrise gebeutelten Europa neues Leben einhauchen. Juncker spricht damals von der „Kommission der letzten Chance“.

Gut zwei Jahre später ist die Lage der EU nach Flüchtlingsdramen, Brexit-Votum und erstarkendem Populismus düsterer als zuvor. Junckers Kommission hechelt einer Krise nach der anderen hinterher. Und der 62-Jährige selbst zeigt sich zunehmend angegriffen: „Alles, was gut läuft, ist den nationalen Regierungen zu verdanken. Alles, was schlecht läuft, der Europäischen Union“, beklagt er bitter.

Schuld wird hin und her geschoben

Dass nationale Regierungen die Schuld für unpopuläre Entscheidungen, die sie selbst mitgetroffen haben, gerne an Brüssel weiterreichen, nervt viele EU-Politiker. Doch wenige reagieren darauf so emotional wie der überzeugte Europäer Juncker, der nach langen Jahren als luxemburgischer Regierungschef ein weites Netz an Kontakten mitbringt. Anwürfe gegen die EU nimmt er zutiefst persönlich.

„Ich fühle mich ein wenig verraten, weil man meine persönlichen Anstrengungen und die Anstrengungen anderer, die zahlreich und dauerhaft sind, nicht genügend berücksichtigt“, erklärt er zum Beispiel Ende Juni 2015. Kurz zuvor hatte die griechische Regierung die monatelangen dramatischen Verhandlungen mit den Gläubigern verlassen und eine Volksabstimmung zu geforderten Sparmaßnahmen angekündigt.

Wenn der Geduldsfaden reißt

Dieses Jahr reißt ihm wieder öffentlich der Geduldsfaden. Als Ende Oktober, nach wochenlangem Gezerre, endlich das europäisch-kanadische Freihandelsabkommen Ceta unterzeichnet wird, empört er sich über die laute Kritik am Handelspakt: „Ich finde es unverschämt, dass man sich vorstellt, dass die höchsten Vertreter der demokratischen Welt dabei wären, (…) die Demokratie zu bedrohen.“ Bisweilen wirkt er oberlehrerhaft. „Sie stellen drei Fragen in einer“, erklärt er einer Journalistin Mitte Dezember im ZDF-Interview. Als diese die Frage präzisiert, belehrt er sie: „Das war die wichtigste. Dann hätten Sie sich darauf beschränken sollen.“

Junckers Dünnhäutigkeit ist die Kehrseite seiner oft erfrischenden Persönlichkeit. Er kann sich verständlich ausdrücken, er hat Charme, Humor und Selbstironie. Er provoziert, er pointiert. „Die Kuh muss vom Eis, aber sie rutscht dauernd aus“, kommentiert er im Sommer 2015 die Griechenland-Krise. Nach Donald Trumps Wahl meint er trocken: „Wir müssen dem neuen US-Präsidenten beibringen, was Europa ist und wie es funktioniert.“

Juncker weiß, dass „Brüssel“ unpopulär ist

Dass Europa funktionieren muss, weil seine (derzeit noch) 28 Mitgliedstaaten alleine schwächer wären, betont Juncker immer wieder. Dass „Brüssel“ unpopulär ist, weiß er aber auch. Zurückhaltung ist daher die neue Verteidigung: Europa solle nur dort aktiv werden, wo es sinnvoll sei, lautet das Credo. Unselige Diskussionen über Vorschriften für Ölkännchen oder Duschköpfe will sich die EU-Kommission ersparen. 100 Gesetzesvorschläge hat sie nach eigenen Angaben seit dem Amtsantritt zurückgezogen, 80 Prozent weniger Initiativen lanciert als in den fünf Jahren davor.

Die Kommission bringt Gesetzesvorhaben auf den Weg, wacht über die Einhaltung von EU-Recht und muss dabei zwischen Regierungen mit den unterschiedlichsten Interessen navigieren. Die Rolle ist schon in ruhigen Zeiten heikel. Jetzt, wo eine Krise die andere jagt, ist sie noch schwieriger. Unter Juncker hat die Brüsseler Behörde einiges angeschoben: Verfahren gegen EU-Staaten im Diesel-Skandal, gemeinsame EU-Datenschutzregeln, die stärkere Sicherung der EU-Außengrenzen. Ein Verfahren zur fairen Verteilung von Flüchtlingen in Europa hat sie hingegen nicht durchsetzen können.

Proteststurm

Juncker selbst tritt nur selten vor die Brüsseler Presse, um wichtige Vorschläge persönlich vorzustellen oder für sie werben – ganz im Gegensatz zu seinem Vorgänger Barroso. Die Furcht vor schlechten Schlagzeilen ist spürbar in Brüssel, und manchmal wird daraus ungeschicktes Krisenmanagement.

Dass die Extra-Gebühren für das mobile Telefonieren und Surfen im EU-Ausland entgegen vollmundiger Ankündigungen doch nicht ganz wegfallen sollten, löst einen Proteststurm aus. Nach wenigen Tagen zieht die EU-Kommission die Roaming-Vorschläge im September zurück. Das Ganze sei „einfach nicht gut genug für unseren Präsidenten“, erklärt ein Sprecher. Juncker selbst schreibt die umstrittenen Pläne dann einem „wohlmeinenden Beamten“ zu und spricht von „technokratischen Fehlern“ – erstaunlich, wo doch selbst die zuständigen EU-Kommissare Günther Oettinger und Andrus Ansip die Ideen noch wenige Tage zuvor öffentlich verteidigt haben.

Oettingers Ausfälle

Wenige Wochen später, als Oettinger in einer Rede Chinesen als „Schlitzaugen“ bezeichnet, rührt sich die EU-Kommission trotz öffentlicher Aufregung lange kaum. Erst sechs Tage nach dem Bekanntwerden eines Videomitschnitts von Oettingers Auftritts entschuldigt dieser sich Anfang November. Wieder einen Tag später redet Juncker mit ihm.

Der Aufschwung der Europaskeptiker führe bei manchen in der Brüsseler Behörde zu Festungsmentalität, berichten Mitarbeiter. Fehltritte glaubt man sich nicht leisten und erst recht nicht eingestehen zu können. Der Druck wird allerdings nicht nachlassen. Im kommenden Frühjahr dürften die Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien beginnen, zudem stehen Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland an. „Ich mache mir keine Illusionen“, hat Juncker voriges Jahr mit Blick auf 2016 gesagt. Er hätte auch 2017 meinen können.