Eine Frage der Existenz

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Nadia Mourad und Lamiya Aij Bachar waren Sexsklavinnen der IS-Dschihadisten. Das Europaparlament verlieh ihnen den Sacharow-Preis. Am Donnerstag sind die Frauen in Luxemburg.

Es sind diese Blicke, die hängen bleiben. Den Raum absuchend, den Blickkontakt mit den anderen größtenteils vermeidend. Blicke aus Augen, die Dinge gesehen haben, die keiner sehen sollte. Mit den beiden Sacharow-Preis-Gewinnerinnen Nadia Mourad und Lamiya Aij Bachar sind heute auch die kaum in Worte zu fassenden Gräueltaten des sogenannten Islamischen Staates in Luxemburg angekommen. Wer den Jesidinnen Nadia und Lamiya in die Augen schaut, bekommt eine sehr, sehr leise Ahnung davon. Alleine das lässt einen gefrieren.

Die beiden jungen Frauen, sie sind noch keine 20, wurden verkauft, vergewaltigt, gefoltert, all das nicht nur einmal, sondern mehrfach. Sie mussten mit ansehen, wie ihre Gemeinschaft im Irak, wie ihre Familienmitglieder erschossen werden. Wer den IS-Schergen nicht zur Sexsklavin taugte, wurde ermordet. Männer sowieso, ältere Frauen, Kinder ebenso. Einfach alle anderen.

Botschafterinnen

Nun sitzen Nadia und Lamiya da und sprechen zur luxemburgischen Presse. Der Europaabgeordnete Frank Engel ist auch da. Die Zeit ist knapp. Anschließend ist noch eine Konferenz. Dann Termine mit der Großherzogin, mit Außenminister Jean Asselborn. Das ist gut so. Nadia und Lamiya sind zu Botschafterinnen ihres Volkes geworden. Es gibt viel zu vermitteln. Alle sollen das hören.

Mit viel Glück, Mut und Geschick gelang ihnen die Flucht vor ihren Peinigern. Wahrscheinlich wären beide sonst jetzt tot. So, wie es viele ihres Volkes sind. Gezählt hat die Toten noch keiner. Die bislang entdeckten Massengräber im Sindschar-Gebirge im Norden des Irak lassen Schlimmstes befürchten. Es ist nicht übertrieben, von einem Völkermord an den Jesiden zu sprechen.

Genozid dauert an

Das Europaparlament hat den beiden Frauen am Dienstag den Sacharow-Preis verliehen. „Wir hoffen, dass die Europäische Union über diesen Preis hinaus Lösungen für das Leiden der Jesiden findet“, sagt Nadia. Der Genozid gehe weiter. Auch in dem Moment, in dem sie in Luxemburg spricht. Es seien immer noch mindestens 3.500 jesidische Frauen als Sexsklavinnen in der Gewalt des IS. Ob und wann sie zurückkönnen in ihre Region, in ihre Welt – wer kann das schon sagen. Zu groß ist das Misstrauen, zu groß die Angst, dass der IS zurückschlägt, sie wieder holt, die Männer, die flüchten konnten, dann erschießt.

Der IS gelangt überall hin, sagt Lamiya, „wir sind nicht sicher vor ihm, keiner ist sicher“. Das Vertrauen in ihre arabischen Nachbarn, neben und mit denen die Jesiden bis vor wenigen Jahren lebten, es ist nicht mehr da. „Fast alle Muslime der Region sind zum IS übergelaufen.“ Für Lamiya ist klar, Verbündete der Jesiden gibt es keine in ihrer Region. Einzige Hoffnung bleiben die Kurden der Autonomen Region Kurdistans im Norden des Irak. Und eben Europa. Besonders Deutschland hat sich hier hervorgetan, hat Zehntausende Jesiden aufgenommen. Tausende weitere hängen in Griechenland fest, in den Camps in Idomeni. Und damit in katastrophalen Umständen. In Europa zwar, aber nicht in dem Europa, das wir kennen.

Es ist eine Existenzfrage

Oder in der Türkei. Dort gehören sie „nicht zu den Willkommensten“, drückt sich Frank Engel, der sich selten vorsichtig ausdrückt, vorsichtig aus. Engel war vor kurzem in der Türkei, hat Jesiden dort besucht. Um nicht ausfallend zu werden, muss sich jeder auch mal vorsichtig ausdrücken. Es fällt ihm sichtlich nicht leicht. In der Türkei, wo in den Ausweisen die Religion des Trägers vermerkt ist, steht bei den Jesiden: nichts. „Die jesidische Religion gibt es nicht in der Türkei“, musste Engel feststellen.

Es ist eine Existenzfrage. Die Europäische Union lässt sie zu grossen Teilen in Griechenland vor sich her vegitieren. In der Türkei existiert die Religion der Jesiden nicht, werden sie diskriminiert. Im Irak und in Syrien ermordet sie der IS. Nimmt ihnen die Existenz. Genau darum geht es: um das Existenzrecht dieses Volkes. Der Sacharow-Preis ist ein kleiner Schritt auf dem Weg dorthin. Er ist vor allem die Folge des Mutes von Nadia und von Lamiya. Dem Mut zur Flucht. Besonders dem Mut, über das zu sprechen, was sie erleben mussten. Die beiden Frauen sehen das als ihre „Verantwortung“. Sie konnten fliehen. Also müssen sie erzählen. So reichen sie diese Verantwortung weiter. Das Europaparlament hat seinen Teil übernommen. Deutschland auch. Portugal will es tun. Luxemburg bislang kaum.