Demokratie in der Praxis

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(Reuters)

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Nun steht es fest: Fast die Hälfte der Schotten ist bereit, UK den Rücken zu kehren und den eigenen Staat zu gründen, einen, der bevölkerungsmäßig 10 Mal größer wäre als Luxemburg.

Eine keineswegs überragende Mehrheit vereitelte beim Referendum den Schritt in die Unabhängigkeit. War es weise, die politisch hochbrisante Frage überhaupt zu stellen? Sind Referenden in der heutigen Zeit ein generell empfehlenswertes Mittel zur politischen Entscheidungsfindung?

Eine universelle Regel bietet die Demokratie zu dieser Problematik nicht an. Welches Referendum hat Gültigkeit? Allein das von oben her organisierte, „verfassungsmäßige“? Oder auch das wilde, von unten gewollte?

Und wie geht man um mit Referenden in Krisengebieten: Wäre jenes, das unter dramatischen Umständen auf der Krim abgehalten wurde, eines, das wohl stattfand und eindeutig war, ungültig? Warum sollten z.B. die Ostukrainer nicht genauso wie die Katalanen über ihren Verbleib in einem Staat abstimmen, der vor nicht sehr langer Zeit unter Rahmenbedingungen gegründet wurde, die es nicht mehr gibt?

Keine Angst, liebe Regierung, das Thema steht in Luxemburg nicht zur Debatte. Lasauvage, Grevenmacher und Ulflingen fühlen sich im Großherzogtum wohl geborgen. Aber die Mitgliedschaft in der Europäischen Union gegenwärtiger Faktur (das wuchernde Supranationale macht Angst) wäre, bei einem Referendum, ein unsicheres Ding. Die vielen, nie zur Debatte gestellten Erweiterungen und das fließende Abgeben von wirtschaftspolitischen Kompetenzen an Brüssel haben die Opposition ungemein gestärkt. Würde einer wie Gaston Vogel mit ein paar kompetenten und redegewandten Partnern per Petition ein Referendum über „Europa“ einfordern, hätten die Parteien zurzeit ein dickes Problem …

Ein Problem, das sich nicht allein aus der Komplizität der Brüsseler Behörden mit den gierigen Kräften der „Märkte“ ergibt, deren Ziel die Profitmaximierung ist und sonst nichts. Willfährige Mitspieler sind nämlich viele der EU-Regierungen, darunter seit Beginn der Spekulationskrise die luxemburgische.

Irgendwie hat sich der giftige Gedanke in die Köpfe eingeschlichen, man habe zu tun, was Brüssel befehle: Abbau der Staatsschulden mittels Verzicht auf Investitionen in die öffentliche Infrastruktur und breit gefächerter Abbau von Sozialleistungen. Das „Sparen“ der öffentlichen Hand hat nirgends zu mehr Lebensqualität und Sicherheit geführt, im Gegenteil. EU-Europa mutet seinen Mitgliedstaaten eine nie da gewesene Arbeitslosigkeit zu. Die Jugend studiert für Jobs, die es hier nicht mehr gibt; auf dem ganzen Kontinent, auch in Deutschland!, verrotten Straßen, Bahnen, Brücken, Leitungen, Schulen, Spitäler, Altersheime usw., usf.

Das alles geschieht im Namen der sogenannten Wettbewerbsfähigkeit der Exportwirtschaft.

Wer exportiert, stößt immer auf Konkurrenten, die dort produzieren, wo die Lohnkosten noch niedriger, die Arbeitszeiten länger sind und der Kündigungsschutz schwächer ist. So singt er denn das garstige Lied von seiner Misere, und das gefällt den Anhängern einer entfesselten Ökonomie.

In der Praxis besteht in einer reifen Demokratie wie Luxemburg keine Möglichkeit, solch negative Entwicklungen durch Referenden zu unterbinden. Die jeweilige Sachlage ist für einfache Fragestellungen zu komplex, es sei denn, man fahre auf der populistischen Schiene.

Ergibt sich daraus, dass die Regierung mit ihrer für fünf Jahre gewählten Mehrheit das demokratisch verbürgte Recht hätte, ihre Gesetze so zu verabschieden, wie es ihr gerade passt?

Dieses Recht mag ihr formal zustehen, anwenden darf sie es nicht, ohne implizit die Grundidee einer lebendigen Demokratie zu verletzen. Ihr Mandat wurzelt in einem winzigen Augenblick (jenem der letzten Wahl), der politische Vergangenheit ist; seit diesem Augenblick hat sich die öffentliche Meinung geändert, und dem ist Rechnung zu tragen.

Vielleicht ist Schweigen besser

Jetzt versucht die DP-LSAP-Gréng-Regierung, die Gewerkschaften und das Patronat für ihren (aus unserer Sicht im angestrebten Maß schädlichen) Sparkurs zu gewinnen. Anstatt dafür zu sorgen, dass das Geld reichlicher fließt, möchte sie den Hahn weiter zudrehen.

Man weiß nicht, was am großen Tisch, der keine Tripartite war, sondern nur ein Meeting, geredet wurde. Vielleicht ist das Schweigen aller Beteiligten gegenwärtig, wo noch Spielraum zu bestehen scheint, besser als rhetorische Winkelzüge vor versammelter Presse.

In besonderen Fällen kann die reife, vertrauenswürdige Demokratie auch, sagen wir es streitbar, vorübergehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit funktionieren.

Es lässt sich nicht alles auf der Straße ver- und aushandeln.

Alvin Sold
asold@tageblatt.lu