Der Präzedenzfall

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Es war einmal eine Republik, in deren Provinzen sich eine örtliche ethnische Mehrheit gegen die nationale Mehrheit erhob. Nach und nach wuchs sich der Wunsch nach mehr Autonomie zur Forderung nach Abspaltung aus. Irgendwann einmal hatte die Zentralregierung die Nase voll und ließ ihre Armee von der Leine, auf dass diese dem separatistischen Spuk ein...

Sowohl das Regime aus der Hauptstadt wie die Führung der Rebellen setzten sich hauptsächlich aus mehr oder weniger kriminellen Elementen zusammen, Leute, die nichts weniger juckte als so weibisches Zeug wie Menschenrechte. Als dieses Szenario im Kosovo seinen unheilvollen Lauf nahm, schickte die NATO am 24. März 1999 ihre Bomber los und amputierte Serbien infolge dieser Kampagne – bei der etliche Zivilisten getötet wurden und ein großer Teil der serbischen Infrastruktur zu Klump gesprengt wurde – von der ihm völkerrechtlich eindeutig zugehörigen Provinz Kosovo. Die NATO hatte kollektiv den Gutmenschen raushängen lassen, und das Völkerrecht hatte das Nachsehen. Heute ist der Kosovo ein unabhängiges Gebilde, von dem niemand weiß, wovon es seine Existenz auf halbwegs redliche Art und Weise bestreiten könnte. Ein Failed State wie aus dem Bilderbuch. Russland warnte damals eindringlich vor dem gefährlichen Präzedenzfall, den der Westen im Begriff zu setzen war. Allein, Russland wurde 1999 noch vom Westen als politische und militärische Quantité négligeable angesehen und man fuhr ganz einfach mit dem Jauchefass über seine Proteste.

Das Völkerrecht in der Mottenkiste

Doch nun ist Russland plötzlich wieder wer. Das Riesenreich muss wieder ernst genommen werden. Sehr ernst. Und wie reagieren viele Westpolitiker, die Russland viel zu früh abgeschrieben hatten, auf diese Tatsache? – Sie holen den schrecklichen Iwan aus der Versenkung. Gerade Polen und Balten, aber auch Bush – der am Dienstag im Rosengarten mal wieder eine Gelegenheit verpasste, den Mund zu halten – setzen alles daran, ein möglichst schreckliches Bild von der von Russland für die freie Welt angeblich ausgehenden Bedrohung zu zeichnen. Dabei tat Moskau in Südossetien im Wesentlichen nichts anderes, als sich den von der NATO im Kosovo gesetzten Präzedenzfall zunutze zu machen, und der lokalen südossetischen Mehrheit gegen die georgische Zentralregierung zu Hilfe zu eilen. Auch in diesem Fall geht zweifelsohne das Völkerrecht baden, aber es steht gerade der NATO nicht sonderlich gut zu Gesicht, wenn sie es jetzt, wo es ihr opportun scheint, plötzlich wieder aus der Mottenkiste holt. Die Wahrheit ist das erste Opfer eines jeden Krieges und man tut gut daran, sowohl die Propaganda aus Tiflis wie jene aus Moskau mit Vorsicht zu genießen. Indem Präsident Saakaschwili aber am vergangenen Donnerstag, dem Tag, als theoretisch der olympische Frieden hätte beginnen sollen, seinen von den Amerikanern ausgebildeten Truppen den Befehl zum Losschlagen gegen die südossetischen Rebellen erteilte, stellte er ein geradezu erstaunliches Maß an Zynismus unter Beweis. Er wusste nur zu gut, dass seine Mannen gegen Moskaus schimmernde Wehr nicht den Hauch einer Chance haben würden. Aber er kalkulierte kaltblütig, dass ein großer Teil der Weltöffentlichkeit, die den Kosovo-Krieg längst schon wieder vergessen hat, reflexartig Partei für den georgischen David gegen den russischen Goliath ergreifen würde. Saakaschwilis Vabanque-Spiel hat Tausende Menschen das Leben gekostet. Auch dieser Gangster gehört vor ein internationales Gericht.
fwagner@tageblatt.lu