Aus Luxemburg nach Russland

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Eine 19-jährige Abiturientin aus Luxemburg berichtet über ihren Aufenthalt in Russland. Seit zwei Monaten ist Martina Merlo bereits in Samara. Ihre Erfahrungen erzählt sie uns im Interview.

Martina Merlo ist 19 Jahre alt und wohnhaft in Luxemburg. Sie besitzt die deutsche und italienische Staatsbürgerschaft und hat in diesem Jahr ihr Abitur in Luxemburg bestanden. Zurzeit befindet sich die 19-Jährige in Russland, genauer gesagt in Samara, etwa 800 Kilometer süd-östlich von Moskau und 200 Kilometer von der Grenze zu Kasachstan entfernt. Hier beteiligt sich Martina Merlo an einem Freiwilligen-Projekt und arbeitet mit Kindern und Erwachsenen mit Zerebralparese. Diese Menschen können sowohl körperliche als auch geistige Schwächen haben.

Das Projekt

Das Projekt für Freiwillige läuft über den „Service volontaire européen“ (European Volontary Service), der im Paket der Europäischen Kommission des Erasmus+ inbegriffen ist. In Luxemburg ist die Sendeorganisation der CIJ (Centre Information Jeunes)
und auch der SNJ (Service National de la Jeunesse). Auf ihren Webseiten kann man Kontaktdaten der zuständigen Personen finden. Bei Interesse sollte man sich direkt an sie wenden und nach einem Termin bitten oder zu einer der Informationsversammlungen gehen.

Es gibt verschiedene Programme die mindestens 3 Monate und maximal ein Jahr dauern: service volontaire d’orientation (SVO), européen (SVE), de coopération (SVC) und civique (SVCi). Bedingungen: Man darf nicht mehr schulpflichtig sein, nicht älter als 30 Jahre sein, seinen legalen Wohnsitz in Luxemburg haben und als „volontaire“ beim SNJ eingeschrieben sein.

Zerebralparese

Unter dem Ausdruck infantile Zerebralparese oder Cerebralparese (von lat. cerebrum „Gehirn“ und griech. parese „Lähmung“) im engeren Sinn, etwas allgemeiner auch cerebrale Bewegungsstörung genannt, versteht man Bewegungsstörungen, deren Ursache in einer frühkindlichen Hirnschädigung liegt. Die dadurch hervorgerufene Behinderung ist charakterisiert durch Störungen des Nervensystems und der Muskulatur im Bereich der willkürlichen Motorik. Am häufigsten sind spastische Mischformen und eine Muskelhypertonie, aber auch athetotische oder ataktische Formen kommen vor. (Quelle: Wikipedia)

Blog

Seit einigen Tagen hat Martina Merlo einen Blog eingerichtet, in welchem sie verschiedene Erfahrungen nach Themen beschreibt und kommentiert.

Sie sind seit gut zwei Monaten in Samara (Russland) und haben noch knapp 8 Monate vor sich. Was hat Sie dazu bewegt, nach Russland zu gehen und dort behinderten Menschen zu helfen?

Martina Merlo: „Nach dem Abitur hatte ich mir schon seit längerem vorgenommen, eine Zeit lang meine Energie primär für andere und nicht nur für mich selbst zu benutzen. Deshalb wollte ich nicht sofort an die Uni, sondern während einem Jahr als Freiwillige arbeiten, um mich für Menschen einzusetzen, die Hilfe brauchen. Ich habe das Projekt, in dem ich jetzt arbeite, besonders interessant gefunden, weil ich durch den direkten Kontakt mit Familien gleichzeitig auch einen besonderen Einblick in das Leben in Russland bekomme.

In der Tat habe ich mir Russland ebenfalls gezielt ausgesucht. Dies hat mehrere Gründe: Einerseits habe ich in den letzten Jahren einen Abendkurs zum Russisch-lernen besucht. Durch meinen Aufenthalt in Samara habe ich mir gleichzeitig erhofft, meine Sprachkenntnisse zu verbessern. Zudem wollte ich in einem Land arbeiten, von dem ich wusste, dass es zahlreiche Unterschiede mit Luxemburg aufweist, um auch andere Kulturen kennen zu lernen und nicht immer wieder nur die Klischees zu hören und in ihnen zu denken. Letztendlich ist die Situation behinderter Menschen in Russland schlechter als bei uns, und somit dachte ich, dass meine Arbeit mehr bewirken könnte, da jede Hilfe dringend gebraucht würde.“

Wie läuft ein normaler Arbeitstag bei Ihnen in Samara ab?

„Da ich in Familien arbeite beginnt meine Arbeit meist am späten Morgen und am frühen Nachmittag; und dauert im Schnitt 6 Stunden. Allerdings sind die Wege in Samara sehr lang, weshalb es manchmal Stunden dauern kann, um von A nach B zu gelangen; vor allem bei schlechtem Wetter.

So kommt es, dass ich morgens im allgemeinen Freizeit habe und/oder Hausarbeit erledige. Ich lebe in einer Wohngemeinschaft mit 3-4 anderen Freiwilligen aus Europa. Insgesamt habe ich 6 verschiedene Familien, die ich abwechselnd besuche. Meist eine am Tag.“

Beschreiben Sie uns die Familien, die Sie betreuen.

„Es gibt Tage, an denen ich einem Jungen Gesellschaft leiste, mit ihm spiele, rede, spazieren gehe, Übungen mache, lese. Der Junge kann weder laufen noch seine Hände benutzen noch sprechen. Er hat auch geistige Defizite. In diesem Fall entlaste ich auch vor allem seine Mutter, die so auch Zeit für den Haushalt und für sich hat.
Ein anderer Junge ist mental völlig normal, und ist Graphiker. Bei ihm besteht meine Arbeit hauptsächlich darin, seinen Anweisungen zu folgen und so seine Projekte zu gestalten, da er seine Hände nicht benutzen kann und nur schlecht redet, weshalb ein Diktaphon keinen Nutzen hat.

Wieder eine andere Familie besteht aus 3-jährigen Zwillingen, von denen einer relative starke Sprechschwierigkeiten hat und nicht laufen kann; und der andere dieselben Symptome in sehr schwacher Form aufzeigt, und somit an sich gesund ist. Der alleinerziehenden Mutter wurde eine aufwändige Physiotherapie empfohlen („Patterning“), für die 3 Leute nötig sind, weshalb neben Spiel und Übungen auch diese auf dem Programm steht.
Im Allgemeinen essen wir Freiwilligen auch in den Familien, was schön ist, weil man russische Essgewohnheiten entdeckt und schätzen lernt.“

Durch Ihre Arbeit und Freizeit haben Sie viel Umgang mit den Menschen in Samara. Wie leben die Menschen dort, wie denken sie?

„Ein kultureller Unterschied, der in Russland sehr ausgeprägt ist, ist die Tatsache, dass die Menschen besser mit Ambiguität leben können als in Luxemburg: Es muss nicht immer alles klar und deutlich sein; und morgen ist auch noch ein Tag. Dies hängt vielleicht auch damit zusammen, dass es viele radikale politische Veränderungen in der Geschichte Russlands gab, und die Leute eher die Einstellung haben, dass man ohnehin nicht wissen kann, wie die Zukunft aussieht. Deshalb und auch aus einer Faulheit, die mit Frustration verbunden ist, wird allgemein nicht weit im Voraus geplant.

Zudem erwarten die meisten Menschen so gut wie nichts von der Regierung oder dem Staat: Es gibt ohnehin keinen richtigen Sozialstaat, oder viele Wirtschaftsregulierungen. Wenn man eine Hypothek aufnimmt sind beispielsweise 8-12% Zinsen normal, bis zu 15% gängig. Hinzu kommt, dass eine allgemeine Politikverdrossenheit vorherrscht, und die Menschen einfach versuchen, das Beste aus ihrem Leben zu machen, ohne auf Hilfe von oben zu hoffen. Andererseits helfen sich Verwandte oder Freunde viel eher und mit weniger Zögern als bei uns: Mir fällt überhaupt eine gro?e Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit zwischen Menschen, die sich bereits kennen, auf. Auf den ersten Blick erscheinen die Russen eher kühl, aber sobald man engeren Kontakt mit einer Person geknüpft hat, sieht es ganz anders aus.

Die Familie hat einen sehr hohen Stellenwert: Oft sind Menschen bereit, sich für ihre Familien hinzugeben. Dies bringt auch mit sich, dass die Arbeit einer Person nur dazu dient, Geld zu verdienen und nicht, sich selbst zu verwirklichen und ‚weiter zu kommen‘. So fällt leider auch auf, dass die Tätigkeit oft ohne Lust oder Enthusiasmus ausgeübt wird, was natürlich auch die Qualität beeinträchtigt.“

Wie sieht man dort den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine? Was sagen die Menschen dazu?

„Der Ukraine-Krieg wird hier von den Medien ständig dokumentiert: Es vergeht kein Tag, an dem in den Nachrichten keine Schreckensbilder der Zerstörung gezeigt werden und das Schicksal der Opfer in der Ostukraine beschrieben wird. Die Menschen sind also oft übersättigt und wünschen allgemein nur noch Frieden für diese Region. Andererseits wird die Regierung in Kiew als faschistisch gekennzeichnet, weshalb Verständnis für russische Hilfe an die Ostukraine (in der ja viele Russen leben) herrscht.

Sind Sie als Europäerin akzeptiert

„Es ist allerdings so, dass diese Meinung (durch Propaganda geprägt) nicht mich als Europäerin einbezieht. Dies erklärt sich einerseits dadurch, dass der ‚Hauptfeind‘ die Vereinigten Staaten, ‚die nur hinter dem Geld her sind‘, und nicht die EU sind. Zudem machen die meisten Russen eine strikte Trennung zwischen dem Politiker und dem Einwohner einer Nation: Ich werde also in dieser Hinsicht zwar ausgefragt, was in Europa zu diesem Thema gesagt wird, aber meine Person wird damit nicht in Zusammenhang gebracht.

Hinzu kommt, dass ich als Freiwillige helfe, und somit ohnehin einen Status habe, der respektiert wird. Abgesehen davon, bin ich als Ausländerin auch eher ein Objekt der Neugierde als des Misstrauens.

Ich wurde, dieses Thema betreffend, in der Tat noch kein einziges Mal ‚verurteilt‘ oder kritisiert. Die erste Reaktion auf meine Herkunft ist entweder Neugierde oder (hinsichtlich auf meine deutsche Staatsbürgerschaft) eine Bemerkung über den 2ten Weltkrieg (‚Hitler kaputt‘), der hier noch sehr aktuell in den Köpfen ist.“

Was wollen Sie in Zukunft studieren/arbeiten?

„Ich bin mir noch nicht so ganz darüber im Klaren, was ich nächstes Jahr studieren möchte. Einerseits würde es mich reizen, weiterhin mit behinderten Menschen zu arbeiten, da es mir gefällt; weshalb ein ’soziales‘ Studium in Frage käme.

Andererseits fände ich es auch interessant, meine Sprachkenntnisse zu vertiefen oder gar neue Sprachen und/oder Kulturen zu entdecken, weshalb mir ein humanistisches Studium ebenfalls möglich erscheint.“

Würden Sie anderen Abiturienten ebenfalls empfehlen, eine solche Erfahrung (freiwillige Arbeit in einem unbekannten Land) zu machen? Was würden Sie denen mit auf den Weg geben?

„Da ich meine Erfahrung hier voll und ganz auskoste, jeder Tag spannend ist (wenn auch nicht immer einfach), würde ich sie in jedem Fall weiter empfehlen. Allerdings sollte man nicht zu viele Erwartungen haben, da (zumindest bei mir) vieles anders kommt, wie man es sich vorstellen könnte.

Ansonsten habe ich nur bemerkt, dass die Freiwilligen, die allzu viele Vergleiche mit ‚dem schönen Heimatland‘ anstellen, die russische Kultur gar nicht zu verstehen versuchen und es ihnen daher nicht sehr gefällt. Es ist also besser, sich einfach gehen zu lassen und alles zu versuchen; dann wird auch vieles mit der Zeit positiv und bereichernd.“