Pro & Kontra: Soll Großbritannien ein zweites Mal über den Brexit abstimmen?

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Deal oder No Deal, Brexit oder Exit vom Brexit: In Großbritannien streitet sich die Politik darüber, wie der EU-Austritt am besten über die Bühne gebracht werden soll. Die Situation ist dermaßen verfahren, dass sich kein Konsens über eine der möglichen Optionen abzeichnet. Unter diesen steht auch eine neuerliche Volksbefragung zur Diskussion: „People’s Vote“. Mit einem zweiten Referendum soll nach den Streitigkeiten, Diskussionen und Erfahrungen der letzten zweieinhalb Jahre noch einmal darüber entschieden werden, ob es zu einem Brexit kommen soll. Doch auch darüber gibt es – nicht nur in Großbritannien – unterschiedliche Ansichten.

Diesmal ohne Propaganda

Ein Referendum, das auf Lügen und Propaganda basiert, sollte man eigentlich für ungültig erklären. Lügen, Propaganda, illegale Wahlkampffinanzierung, Datenmissbrauch und Fake News hatten einen großen Einfluss auf das Brexit-Referendum vom Juni 2016. Das wurde inzwischen mehrmals belegt. Das Problem: Da das Referendum rechtlich nicht bindend war, kann es demnach auch nicht für ungültig erklärt werden. Aber die Frage nach der Gerechtigkeit sucht immer noch nach einer Antwort. Und die einzig sinnvolle wäre: Ein zweites Brexit-Referendum muss her, diesmal unter fairen Bedingungen.

„The People’s Vote“ drängt sich immer mehr auf. Es ist quasi der berühmte Strohhalm, an den man sich klammern kann. Es ist der letzte Hoffnungsschimmer vor der großen Katastrophe. Denn der EU-Austritt Großbritanniens wird Nachteile auf beiden Seiten des Ärmelkanals mit sich bringen. Umfragen zufolge würden Brexit-Gegner den Ausgang eines solchen „People’s Vote“ tatsächlich für sich entscheiden. Ende 2017 sprachen sich 51 Prozent der Befragten gegen einen Brexit aus, 41 Prozent dafür. Bei Umfragen zwischen Februar 2018 und September im selben Jahr schrumpfte der Vorsprung der Brexit-Gegner allerdings auf nur noch 5 Prozent vor den Brexit-Befürwortern. Zur Erinnerung: Am 23. Juni 2016 stimmten 51,89 Prozent der Wähler für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. Nick Clegg, ehemaliger Parteichef der Liberaldemokraten und stellvertretender Premierminister Großbritanniens von 2010 bis 2015, sagte im September 2018: Die Stimmung in der Bevölkerung habe sich spürbar geändert, bei manchen Briten seien erstmals „leidenschaftliche Pro-Europa-Gefühle“ aufgetaucht.

Schuld an den Manipulationen sind unter anderem Politiker wie Ex-Außenminister Boris Johnson oder der frühere UKIP-Vorsitzende Nigel Farage, auch noch „Vater des Brexit“ genannt. Johnson etwa scheute sich nicht, die EU einen „europäischen Super-Staat“ zu nennen und diesen mit den Namen Napoleon oder Hitler in Verbindung zu bringen. Beide hätten schließlich von solch einem Staat geträumt, so Johnson.

Aber auch bei der Finanzierung der Brexit-Kampagnen gab es Unstimmigkeiten. Der Multimillionär und ehemalige UKIP-Sponsor Arron Banks hatte die Brexit-Kampagne „Leave.EU“ mit insgesamt zwölf Millionen Pfund unterstützt. Er wurde somit zum größten Parteispender in der Geschichte Großbritanniens. Vor einigen Monaten verhängte die britische Wahlbehörde gegen Banks’ Organisation eine Strafe von 70.000 Pfund. Der Grund: mehrere Verstöße gegen die Regeln der Wahlkampffinanzierung. Ähnliches könnte auch der offiziellen Brexit-Kampagne „Vote.Leave“ blühen. Die Ermittlungen laufen noch.
Damit nicht genug. Im Laufe der Untersuchungen wurden Banks und weiteren Mitarbeitern Kontakte mit russischen Regierungsbeamten nachgewiesen. Auch russische Oligarchen waren daran beteiligt und sollen den Briten lukrative Deals mit Goldminen angeboten haben.

Fazit: Ein zweites Brexit-Referendum unter fairen Bedingungen drängt sich mehr als auf.

Eric Rings, Auslandredaktion

 

Populisten würden sich freuen

Die Briten hatten noch immer so ihre Schwierigkeiten mit dem Kontinent. So hatte es schon seinen Grund, dass zwar ausgerechnet Winston Churchill als einer der Ersten nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Rede in Zürich der Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa das Wort redete. Dabei aber wie selbstverständlich ausschloss, dass Großbritannien sich diesem Verbund anschließen werde. Dennoch trat das Vereinigte Königreich später der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei. Und hatte Zeit seiner Mitgliedschaft ein ambivalentes Verhältnis zur Staatengemeinschaft. Was sich vor allem daran zeigt, dass sich die Briten seitdem bereits zweimal die Frage stellten, ob sie weiter dazugehören wollten oder nicht.

Am 23. Juni 2016 kamen sie in ihrem Referendum, wenn auch mit einem knappen Resultat, zum Schluss, dass sie aus der EU austreten wollen. Das ist zutiefst zu bedauern. Aber zu respektieren. Dass beim Wahlkampf die Brexit-Befürworter die Wähler über die Vorteile eines Austritts belogen und betrogen haben, dass sich die Balken biegten, kann, ein mündiges Wahlvolk voraussetzend, schwerlich als Argument dafür gelten, die Volksbefragung zu wiederholen. Angesichts der verfahrenen Situation, in die sich die politische Klasse in London manövriert hat, mag es vielleicht verlockend sein, über ein neues Referendum die Entscheidung zu suchen. Doch dazu müssten erst eine Reihe von weiteren Fragen geklärt werden, die jede für sich nur sehr schwer bis kaum zu lösen sind. So ist sich das britische Parlament vollkommen uneinig über die Abhaltung eines weiteren Referendums. Streit dürfte es auch darüber geben, über was abgestimmt wird: über den Brexit an sich oder nur über das mit der EU ausgehandelte Abkommen. Und aus Zeitmangel für die Vorbereitungen müsste eventuell die Frist für den Austritt verlängert werden, dem die 27 anderen EU-Staaten einstimmig zustimmen müssten. Woran der eine oder andere möglicherweise nicht einmal ein Interesse haben könnte.

Doch neben diesen praktischen Erwägungen spricht insbesondere ein anderes Argument gegen ein weiteres Referendum: Es ist der nicht nur von EU-Kritikern und Populisten aller Färbungen erhobene Vorwurf, es werde so lange abgestimmt (wie es in Dänemark 1992 und Irland 2009 bereits geschehen sei), bis das – vor allem von „Brüssel“ – erwünschte Resultat zustande kommt. Womit eine Verbiegung des ursprünglich geäußerten demokratischen Willens unterstellt wird. Die Brexiteers in Großbritannien würden toben. Die Le Pens, Straches und andere Rechtspopulisten und -extreme hingegen würden sich einige Monate vor den Europawahlen darüber freuen, ein derartiges Wahlkampfgeschenk zu erhalten. Es wäre für sie die perfekte Bestätigung dafür, dass sich „die politische Elite“ Abstimmungen zunutze mache, wie sie gerade gebraucht würden. Auch wenn die EU und die anderen Mitgliedstaaten in diesem Fall keinen Einfluss auf die Geschehnisse im Vereinigten Königreich hätten.

Insofern dürfte es mit oder ohne Abkommen am 29. März 2019 zum Brexit kommen und es wird an einer neuen Generation von Briten liegen, ob sie sich mit dem Kontinent versöhnen und der EU wieder beitreten wollen.

Guy Kemp, Auslandsredaktion