Gemeinsam und trotzdem getrennt: Roma führen in Europas Kulturhauptstadt Plowdiw ein Schattendasein

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„Gemeinsam“ lautet in Anspielung auf die multikulturelle Bevölkerung das Motto von Europas neuer Kulturhauptstadt Plowdiw. Doch die größte Minderheit der Roma fühlt sich in Bulgariens Boomstadt diskriminiert – und ausgegrenzt.

Von unserem Korrespondenten Thomas Roser, Plowdiw

Gemächlich schlendern die Müßiggänger über das Kopfsteinpflaster der Innenstadt von Plowdiw. Als wären sie von Verhüllungskünstler Christo verpackt, trotzen die in Plastikfolien gewickelten Palmen vor der Dschumaja-Moschee dem Morgenfrost. Selbst viele Sofioter träumten davon, ins „entspannte Plowdiw“ umzuziehen, berichtet im Moschee-Café Ruslan Jordanow: „Bisher hat Sofia im Land immer alles bestimmt. Doch der Trend hat sich gekehrt: Plowdiw ist der aufsteigende Stern in Bulgarien.“ Der hagere Redakteur der Lokalzeitung Maritza weiß, wovon er spricht. Bereits 2016 ist der in Sofia geborene Journalist bewusst in die zweitgrößte Metropole des Landes umgezogen: „Plowdiw ist schon lange Bulgariens Kulturhauptstadt. Ich würde nie mehr nach Sofia zurückziehen.“

Ein Einzelfall ist der Zuwanderer in Bulgariens Boomstadt keineswegs. Über eine wachsende Bevölkerung und eine stark anziehende Zahl von Touristen, Investoren und Arbeitsplätzen freut sich der stellvertretende Bürgermeister Stefan Stojanow. Schon in den letzten fünf Jahren habe sich der Titel als Europas Kulturhauptstadt 2019 für Plowdiw „als enormes Marketing-Instrument“ erwiesen: „Es hat uns geholfen, das Image der Stadt positiv zu ändern. Plowdiw ist heute der beste Ort in Bulgarien, um zu leben, zu arbeiten – und zu investieren.“

Über eine halbe Million Menschen leben im Großraum Plowdiw. Doch der im Rathaus gepriesene Aufschwung hat in Stoliponowo keinerlei Spuren hinterlassen. 15 Minuten Fahrt vom Zentrum entfernt holpern in dem Roma-Viertel Autos und Pferdefuhrwerke durch knöcheltiefe Schlaglöcher und Abwasserlachen. Einsam ragt zwischen heruntergekommenen Wohnblocks ein verrostetes Klettergerüst über eine mit Müll übersäte Spielplatzbrache.

Schon seit Jahrzehnten sei in dem mit rund 50.000 Einwohnern größten Roma-Viertel Europas „so gut wie nichts in die Infrastruktur investiert worden“, berichtet Anton Karagjosow, der Gründer der Stiftung „Roma Plowdiw“. Zwei an Stoliponowo angrenzende Elendsviertel seien „noch nicht einmal kanalisiert“: „Dort leben die am meisten marginalisierten Bewohner. Deren Probleme fließen buchstäblich in die Siedlung rein.“
Zu sozialistischen Zeiten seien die Roma von Stoliponowo meist in den staatlichen Kombinaten beschäftigt gewesen, erzählt der ergraute Familienvater: „1989 kam die Demokratie – aber nicht für die Roma. Sie waren die Ersten, die entlassen wurden und auf der Straße landeten.“ Nur noch ein kleiner Teil der Viertelbewohner lebe vom traditionellen Kunstschmiedehandwerk: „Die meisten sind arbeitslos, leben von der Sozialhilfe oder den ausgewanderten Verwandten im Westen.“ Neben ihrer schlechten Ausbildung und oft mangelhaften Bulgarisch-Kenntnissen mache den meist türkischsprachigen Viertelbewohnern die „stille Diskriminierung“ bei der Arbeitssuche zu schaffen: „Sobald Arbeitgeber ihre Hautfarbe sehen, sagen sie, dass die ausgeschriebene Stelle vergeben sei.“

„Zaedno – gemeinsam“ prangt das Motto des Kulturjahrs in goldenen Lettern auf den blauen Kalendern, die sich in einem früheren Tabaklagerhaus untergebrachten Büro von „Plowdiw 2019“ stapeln.

Das Programm solle nicht zuletzt „die vielen Farben und Kulturen“ der Vielvölkerstadt widerspiegeln, sagt die stellvertretende Programmdirektorin Gina Kafedschijan. Kultur könne zwar keine Straßen ausbessern, aber Probleme aufzeigen und Perspektiven verändern: „Wenn deutsche Schauspieler ein Theaterprojekt mit Roma-Kindern in Stoliponowo verwirklichen, erhöht das auch die Aufmerksamkeit für das Viertel.“
Stolz verweist Kafedschijan auf das zentrumsnahe Handwerkerviertel Kapana, das sich nach jahrzehntelanger Agonie dank einer von Plowdiw 2019 angestoßene Initiativen zur Stadtteilerneuerung in den letzten Jahren zu einem pulsierenden Ausgeh- und Künstlerviertel gemausert habe: „Ganz Plowdiw ist heute stolz auf die Kapana. Und hoffentlich werden wir dank des Kulturjahrs auch bald stolz auf unser Stoliponowo-Viertel sein.“
Von einem multikulturellen Idyll ist Plowdiw weit entfernt: Stoliponowo wird von Einheimischen meist gemieden. „Get-to Stoliponovo“ fordert das Plakat des Verbands der Roma-Jugendclubs mit einem Wortspiel die Gäste des Kulturjahrs zum Besuch des Ghettoviertels auf. Die Bulgaren würden auf Roma als „Bürger zweiter Klasse“ blicken, sagt Direktor Assen Karagjasow: „Plowdiw war lange eine sehr tolerante Stadt, ein Strauß von Blumen unterschiedlicher Völker. Doch bewusst gesäter Hass hat dieses Image zerstört.“
Von seinem Vater Anton war der studierte Ökonom in den 90er-Jahren als erstes Roma-Kind in Stoliponowo auf eine bulgarische Schule außerhalb des Viertels geschickt worden: Wegen der zunehmenden Übergriffe von Skinheads empfiehlt er heute den von ihm betreuten Jugendlichen, abends nur noch in Gruppen von mindestens fünf Personen das Zentrum zu besuchen: „Aus Angst vor Attacken trauen sich viele Roma gar nicht mehr aus dem Viertel.“
Seitdem vor über einem Jahrzehnt rassistische Bürgerwehren und Parteien wie Ataka an Zulauf gewannen und es in ganz Bulgarien wiederholt zu Anti-Roma-Ausschreitungen kam, ist das Klima laut Karagjasow immer feindseliger geworden. Nachdem die Nationalisten der Vereinigten Patrioten 2017 in die Regierung eingetreten seien, seien Roma selbst „offenen Hassreden im Parlament“ ausgesetzt: „Sie manipulieren die Jugendlichen, schaffen eine Atmosphäre des Hasses. Und die Lage verbessert sich nicht: Sie verschlechtert sich.“
Für fatal hält es Karagjasow, dass die Anstrengungen, Roma-Kinder auf Schulen außerhalb ihrer Viertel zu schicken, um ihnen zu verbesserten Bulgarisch-Kenntnissen zu verhelfen, unter der neuen Regierung praktisch zum Erliegen gekommen seien. Im neuen Schulgesetz hänge die Finanzierung der Schulen ausschließlich von der Zahl ihrer Schüler ab: „Viele bulgarische Eltern melden ihre Kinder sofort von der Schule ab, wenn Roma-Kinder am Unterricht teilnehmen.“ Die Angst vor rückläufigen Schülerzahlen führe dazu, dass immer weniger Direktoren noch Roma-Schüler akzeptierten: „Doch Kinder, die nicht richtig Bulgarisch lernen, können später allenfalls einen Job als Straßenkehrer finden.“
Es sei natürlich schön, dass Plowdiw dank des Kulturjahrs „noch schöner“ geworden sei, sagt der Mann mit der Lederjacke beim Abschied: „Doch in Stoliponowo wurde nichts verschönert.“ Selbst wenn im Laufe des Jahres kurzfristig noch einige zusätzliche Kulturprojekte in Stoliponowo bewilligt werden sollten, werde sich für die Bewohner kaum etwas verbessern: „An der Lage der Roma wird das Europäische Kulturjahr nichts ändern.“