Der „Fremde“ als Feindbild

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Das Problem jeder Volksbefragung sind die Antworten auf nicht gestellte Fragen. Die Frage des „Ausländerwahlrechts“ spaltet die Nation. „Ja“- wie „Nein“-Sager liefern sich einen erbitterten Kampf um die Meinungsführerschaft.

Meine Sympathie gehört dem „Ja“. In einem Land, dessen Wohlstand vom Ausland abhängt, das ohne die Arbeitskraft der ausländischen Mitbürger nicht mehr funktionieren würde, scheint mir die Gewährung des aktiven Wahlrechts für interessierte Mitbürger ein notwendiger Schritt der politischen Integration.

Es geht wohlgemerkt nicht um ein allgemeines Wahlrecht für alle Ausländer. Die Residenzklausel von zehn Jahren und die Bedingung der vorherigen Teilnahme an Kommunal- und Europa-Wahlen beschränkt die Zahl der zusätzlichen Wähler auf zirka 30.000, ein gutes Zehntel der Wählerschaft.

Moderates politisches Interesse

Viele ausländische Mitbürger, wie viele Luxemburger auch, sind ohnehin nicht am politischen Geschehen interessiert. Beweis: Bei den Wahlen für die Salariatskammer durften alle Arbeitnehmer, ob Luxemburger, ansässige Ausländer oder im Ausland residierende Grenzgänger, ihre Stimme abgeben. Rund zwei Drittel taten dies NICHT!

Trotz meiner Befürwortung der politischen Integration von mehr Ausländern habe ich Verständnis für jene Mitbürger, die dies aus legalistischen Gründen ablehnen. Es ist zu argumentieren, das Wahlrecht könne nur vom nationalen Souverän ausgeübt werden. Was den Besitz der Nationalität voraussetzt.

Deshalb habe ich Sympathie für den Gesetzesvorschlag der CSV, die Bedingungen für die Beantragung der luxemburgischen Nationalität stark zu erleichtern und die Residenzpflicht bis auf fünf Jahre herabzusetzen.

Die Regierung wäre gut beraten, das Umdenken der CSV aufzugreifen, egal wie das Referendum ausgeht. Seit der damals nicht unumstrittenen Gewährung der Möglichkeit der doppelten Nationalität unter der Juncker-Asselborn-Regierung erhielten mehrere Tausend ausländische Mitbürger unsere Staatsbürgerschaft, ohne dass dabei unserer „Identität“ flöten ging!

Entgleisung einer Debatte

Die Debatte über das „Für“ oder „Wider“ des aktiven Wahlrechts für eine überschaubare Zahl Ausländer ist leider entgleist. Wie immer bei einer „Volksbefragung“ geht es nicht mehr um die eigentliche Fragestellung. Es kocht die „Volksseele“. Bizarre Fragen werden aufgeworfen, Ressentiments geschürt, erschreckende Vorurteile ausgewalzt. Schlafende Hunde wurden geweckt.

Die „Meinungsfreiheit“ auf den so falsch benannten „sozialen Medien“ entwickelt sich immer mehr zu einer „Anpinkel-Freiheit“ für ewig Frustrierte und grantige Nörgler. Auf den Internetseiten von rtl.lu, wort.lu oder tageblatt.lu tummeln sich meist anonyme Zeitgenossen, die über alles herfallen. Jede Falschmeldung, jedes Gerücht wird mit Wollust weitergeben. Überall werden Konspirationen gewittert. Politiker und andere Prominente werden angepöbelt, nur weil es sie gibt.

Die Debatte um das Wahlrecht für Ausländer ruft haufenweise „wahre“ Luxemburger auf den Plan, die sich „bedroht“ wähnen in ihrer Identität, ihrer Sprache, ihrer Kultur.

Weshalb das Wahlrecht für 30.000 oder selbst 40.000 zusätzliche Wähler die nationale Identität der Luxemburger gefährden könnte, ist nicht zu belegen. Auch ohne Wahlrecht bleiben die gleichen Ausländer ein gewichtiger Teil der Bevölkerung.

Die nationale Realität lässt sich nicht mit Überbetonung der luxemburgischen Identität verändern. Nur 54% der Einwohner besitzen einen luxemburgischen Pass. Da zusätzlich 180.000 Grenzgänger für uns arbeiten, ist der Anteil der aktiven Luxemburger am Arbeitsmarkt auf magere 29% gefallen.

Luxemburg hat sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt durch immer neue Immigrationswellen. Viele Besatzungstruppen haben ihre Spuren (und ihre Samen) hinterlassen. Unsere Kultur wurde mehr geprägt durch ausländische Bischöfe wie Willibrord und französische wie preußische Festungsbauer als durch die bitterarmen (damals wahren Bio-) Bauern, die das Land und sich selbst kaum ernähren konnten. Viele Luxemburger mussten sich im Ausland verdingen oder wanderten zu Zehntausenden aus.

Die „Klöppelkrieger“ sprachen kein heute verständliches „Lëtzebuergesch“, sondern ein moselfränkisches Platt. Dass es nunmehr eine ansprechende luxemburgische Kulturtätigkeit gibt, verdanken wir Politiken, die von Europa gefördert werden. Wo ständen wir kulturell ohne die Media-Programme der EU, ohne Impulse durch die europäischen Kultur-Hauptstädte und vieles mehr?

Trotz (oder gerade wegen?) der multikulturellen Einflüsse, denen sich unser Land ausgesetzt sieht, gab es noch nie so viele Romane, Theaterstücke, Filme oder Lieder auf Luxemburgisch wie heute.

Verlieren wir etwa unsere Identität, weil viele waschechte Luxemburger gerne „Tatort“ sehen oder für Bayern München fiebern, Pizza oder Sushi essen? Woher die plötzliche Angst, ja Panik, vor den „Ausländern“? Fressen Ausländer uns das Brot weg?

Ist es nicht eher so, dass die wirtschaftliche und damit soziale Entwicklung des Landes ausländischen Investitionen zu verdanken ist? Erzgruben, Stahlwerke, Eisenbahnen, RTL, Finanzplatz, SES, Europäische Institutionen, Goodyear, Dupont und Co. sind Produkte von ausländischem Know-how, ausländischem Geld. Der Hauptbeitrag der „Ureinwohner“ zum nationalen Brötchen-Backen besteht darin, Ausländern ehemalige Kartoffeläcker als teures Bauland anzudrehen.

Völlig abkapseln?

Ist es nicht hirnverbrannt, auf Facebook die „patriotische“ Forderung zu lesen, in unseren Schulen dürfe nur auf Luxemburgisch unterrichtet und nur noch Luxemburgisch gelehrt werden? Die so erzogenen Generationen von wahren „Lëtzebuergern“ müssten in Zukunft von Dolmetschern begleitet ins grausige Ausland reisen! Andere wollen den „Mémorial“ auf „Lëtzebuergesch“ übersetzt sehen! Ein Riesenfortschritt für alle Mitbürger, die abends im Bett die letzten Beschlüsse der „Chamber“ studieren wollen.

Man kann über diese Auswüchse den Kopf schütteln, doch die nationalistischen Ergüsse der einheimischen „Wutbürger“ entlarven die dunkelsten Seiten der menschlichen Psyche. Der „Fremde“ als Sündenbock war die Triebkraft hinter vielen der schlimmsten Seiten der Weltgeschichte.

Verstärkt wird die latente Fremdenfeindlichkeit durch die Flüchtlingsdramen. Wenn im Mittelmeer Emigranten zu Hunderten ertrinken, weil sie ihr Heil in der von vielen Europäern verteufelten EU suchen, verfallen Politiker und Medien in Pathos und kasteien „Brüssel“. Die Kommission kann jedoch nur das tun, was die Staaten erlauben. Ein beherzteres Handeln der Staaten scheitert wiederum an der dumpfen Resistenz großer Teile der respektiven Bevölkerungen. Als das Tageblatt seine Leser zur Flüchtlingshilfe befragte, stimmten bloß 34% für eine größere Anstrengung. 8% bekundeten ihr Desinteresse. Satte 58% sprachen sich gegen mehr Solidarität mit Flüchtlingen aus und befanden, diese seien selbst schuld an ihrer misslichen Lage!

Wie auch immer das Referendum ausgehen wird, es wird bittere Spuren hinterlassen. Vor allem schafft die Befragung den Nährboden für eine nationale Version des in vielen Teilen Europas grassierenden politischen Populismus. Die Frage sei erlaubt, ob die Urheber der Volksbefragung alle Konsequenzen ihrer Initiative bedachten.