Die Libyen-Route und die Sorgen der Europäer

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Die Europäische Union fürchtet sich vor einem neuen Flüchtlingschaos mitten im Wahlkampf. Nun will sie die Libyen-Route notfalls mit "unkonventionellen Mitteln" dichtmachen.

Für viele in der EU ist es eine trügerische Ruhe: Nach den Rekordzahlen vom vergangenen Jahr kommen derzeit kaum Flüchtlinge in Italien an. Nach dem Winter wird sich das schnell ändern, dann werden in Libyen wieder Tausende in Boote steigen.

Der maltesische EU-Ratsvorsitz warnt bereits vor „nie dagewesenen“ Flüchtlingszahlen. Nach dem Flüchtlingspakt mit der Türkei wollen die EU-Staaten deshalb auch die Libyen-Route so weit wie möglich dicht machen. 181.000 Menschen kamen im vergangenen Jahr in Italien an. Libyen ist das wichtigste Ausgangsland für die gefährliche Reise: 90 Prozent der Flüchtlinge auf der Route starten von dort.

Warten auf besseres Wetter

EU-Diplomaten zufolge wird geschätzt, dass derzeit 300.000 bis 350.000 Flüchtlinge in Libyen auf besseres Wetter und die Überfahrt nach Europa warten. „Wenn der Kern des Türkei-Abkommens im zentralen Mittelmeer nicht kopiert wird, wird Europa einer großen Flüchtlingskrise gegenüberstehen“, warnt der maltesische Ministerpräsident Joseph Muscat. Dann könnten die „Kernprinzipien“ der EU „ernsthaft auf die Probe gestellt werden“.

Denn nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und den Niederlanden stehen dieses Jahr Wahlen an – und neues Flüchtlingschaos in Europa würde Populisten und Radikalen in die Hände spielen.

Türkei-Abkommen nicht eins zu eins kopierbar

Den EU-Staaten ist allerdings klar, dass sie das Türkei-Abkommen, das die Ankunftszahlen in Griechenland drastisch gesenkt hat, nicht eins zu eins auf Libyen übertragen können. „Dafür ist die innenpolitische Lage zu schwierig“, sagt ein Ländervertreter.

Nach jahrelangem Chaos und Kämpfen verfeindeter Milizen gibt es seit März 2016 in Libyen zwar eine Regierung der nationalen Einheit. Sie hat aber weite Teile des Landes nicht unter Kontrolle. Das macht es den Schlepperbanden leicht, und viele Milizen verdienen in ihren Gebieten gut an dem Geschäft.

Ansprechpartner fehlt

Der EU fehlt dagegen ein einheitlicher Ansprechpartner, um eine wirksame Flüchtlingsstrategie zu vereinbaren. Schon jetzt werden deshalb viele EU-Hilfsprojekte in Libyen auf lokaler Ebene vereinbart.

Vergangene Woche stellte Malta den EU-Botschaftern ein erstes Diskussionspapier zu Libyen vor. Es soll der Vorbereitung des EU-Gipfels am 3. Februar in Malta dienen, am Donnerstag beraten auch die Innenminister darüber. Die Eckpunkte: mehr Geld für Rückkehrprogramme für in Libyen festsitzende Flüchtlinge, eine „Schutzlinie“ in libyschen Hoheitsgewässern und die „radikale Verstärkung“ des Kampfes gegen Schlepper.

Denn die außerhalb libyscher Hoheitsgewässer tätige EU-Marine-Mission „Sophia“ hat diesen Auftrag bisher nicht erfüllen können. Für einige EU-Länder ist sogar das Gegenteil der Fall: „‚Sophia‘ hat klar Sogwirkung erzeugt“, sagt ein Diplomat. Die EU-Schiffe seien Teil des Kalküls der Schleuser. Sie schleppten überladene Flüchtlingsboote in internationale Gewässer und setzten Notrufe ab, damit die Europäer die Menschen retten und nach Italien bringen.

Zwei Optionen

Der maltesische EU-Vorsitz stellt deshalb zwei Optionen zur Diskussion: entweder „Sophia“ wie ursprünglich geplant in libysche Hoheitsgewässer auszuweiten, um die Schleuser dingfest zu machen – oder die Schutzlinie nahe den Ausgangshäfen mit „libyschen Kräften“ bei „starker“ EU-Unterstützung aufzubauen.

Beides gilt als politisch und praktisch schwierig, die zweite Variante hätte für die EU aber einen Vorteil: Werden die Flüchtlinge von libyschen Schiffen aufgenommen, könnten sie nach Libyen zurückgebracht werden. Dieses Ziel geben seit Monaten mehrere EU-Staaten aus, darunter Österreich und Ungarn. Auch der deutsche Innenminister fordert trotz Protesten von Hilfsorganisationen längst Aufnahmelager in Nordafrika für auf See gerettete Flüchtlinge.

Massiv unter Druck

Trotz aller Vorbehalte und Schwierigkeiten – die EU sieht sich unter massivem Handlungsdruck. „Alle sehen, dass im Frühling die Überfahrten wieder zunehmen werden“, sagt ein Diplomat, „Wir müssen etwas tun – zur Not auch mit unkonventionellen Mitteln“.