Europa ratlos

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Was tun nach dem Brexit-Referendum?

Er habe, seit er an den EU-Gipfeltreffen teilnimmt, noch nie eine solche „Atmosphäre geprägt von Unsicherheit“ unter den 28 EU-Staats- und Regierungschefs erlebt wie am Dienstag, erklärte der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz.

Dem könnte man hinzufügen, dass auch noch nie so viel Ratlosigkeit in Europa herrschte. Darüber, wie es nun weitergehen soll, welches die Antwort auf diese massive Ablehnung gegenüber einem Projekt sein soll, dessen Selbstverständnis es doch eigentlich ist, die Menschen und Völker auf dem Kontinent zu einen.

Stattdessen haben sich jene durchgesetzt, die spalten und wieder auseinanderdividieren, was über Jahrzehnte mühsam zusammengefügt wurde. Dass dabei ein durchaus kompliziertes Gebilde geschaffen wurde, das von den meisten Bürgern in Europa nicht durchblickt und verstanden wird, dürfte mit dazu beitragen, dass sich immer mehr Menschen von dem europäischen Projekt abwenden.

Dabei hilft auch der erklärende Hinweis nicht weiter, dass selbst die Einzelteile der so geschaffenen Union zuweilen nicht minder kompliziert sind. Etwa dass in Belgien auch schon mal ein Jahr vergehen kann, bis eine Regierung gebildet ist, dass in Spanien selbst nach einem zweiten Urnengang die Regierungsbildung ein fast aussichtsloses Unterfangen bleibt oder in Kroatien nach nur wenigen Monaten Regierungszeit Neuwahlen angesetzt werden mussten.

Dennoch: Das große Narrativ der in einer Gemeinschaft zusammengeschweißten Völker, die sich somit gegen Kriege untereinander immun gemacht haben, findet immer weniger Gehör. Die Erkenntnis, dass die Zusammenarbeit in der EU angesichts einer globalisierten Welt die einzelnen Staaten über ihre eigenen Kapazitäten hinaus stärkt, verliert an Wirkkraft.

Ratlosigkeit herrscht insbesondere wohl auch deshalb, weil es in Großbritannien gelungen ist, eine Mehrheit mit dreisten Lügen und dem Schüren von Ängsten davon zu überzeugen, sich von diesen Ideen gänzlich zu entfernen und aus dem grundsätzlich großartigen Projekt der europäischen Integration auszusteigen. Und befürchtet wird, dass sich dasselbe in anderen EU-Staaten wiederholen könnte.

Nein, es gibt nach dem britischen EU-Austritt keine wöchentliche 350-Millionen-Pfund-Spritze für das Gesundheitswesen. Nein, die Türken stehen nicht mit den Syrern und Irakern im Schlepptau vor der Tür, da sie derzeit gefühlte Jahrhunderte von einer EU-Mitgliedschaft entfernt sind. Und: Nein, Großbritannien wird sich der Zuwanderung aus den EU-Staaten nicht entziehen können, wenn es nicht auf den wirtschaftlich lebensnotwendigen EU-Binnenmarkt verzichten will.

Ratlos wirken die EU-Politiker, wenn sie nun nach einer Antwort auf die Zurückweisung der britischen Wähler suchen. Diese haben sich nicht nur von Lügen leiten lassen, sondern auch von einem allgemeinen Gefühl, das sich insbesondere in jenen Gesellschaftschichten breitmacht, die sich abgehängt und zurückgelassen fühlen. Vor allem die Finanz- und Schuldenkrisen sowie Steuervermeidungs-Skandale haben den Eindruck entstehen lassen, dass die Union manchen viel mehr dient als anderen.