Hat Macron seinen Glanz verloren?

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Emmanuel Macron befindet sich auf der Siegerstraße. Innerhalb eines Jahres wandelte er sich vom unerfahrenen politischen Außenseiter ohne Rückhalt im Establishment zum Präsidenten der Französischen Republik und zum Chef einer neu gegründeten politischen Partei, die über eine beeindruckende Mehrheit im Parlament verfügt. Wird es ihm gelingen, so weiterzumachen?

Macron verdankt seinen jüngsten Erfolg nicht nur purem Glück, sondern auch seiner Fähigkeit, jede sich ihm bietende Chance wahrzunehmen. Es gelang ihm, Wählern, die dem politischen Establishment misstrauten, eine ansprechende Alternative zu bieten, ohne dass diese dafür an den rechten oder linken Rand abwandern mussten. Bald wurde er als intelligenter Entschärfer der populistischen Scharfmacher gesehen. Macrons Wirtschaftsprogramm war besonders klug, da es eine Reaktion auf die über ein Jahrzehnt dauernden Untersuchungen der Missstände in der französischen Wirtschaft darstellte. Er bekannte sich zur Liberalisierung des bekanntermaßen erstarrten Arbeitsmarkts und zur Senkung einer exzessiven, den Unternehmergeist abwürgenden Steuerlast. Außerdem versprach er, durch den Abbau umständlicher Regulierungen und einer Rationalisierung des veralteten Wohlfahrtssystems den schwerfälligen französischen Staatsapparat zurückzudrängen, der momentan jährlich 57 Prozent des BIP an Ausgaben verzeichnet.

Nach seiner Wahl bestätigte Macron seinen Ruf als Erneuerer, als er eine Regierung bestehend aus jungen Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft einsetzte – vielleicht unerfahren, aber enthusiastisch und intelligent. Menschen, die seit Langem über den wirtschaftlichen Niedergang Frankreichs geklagt hatten, staunten angesichts des Wunders, das vor ihren Augen Gestalt annahm.
Doch große Erwartungen können auch Vorboten großer Enttäuschungen sein. Und die frühen Signale aus Macrons Regierung sind beunruhigend. Obwohl die versprochene Reform des Arbeitsmarkts zwar auf Schiene ist und schon im September verabschiedet werden könnte, gestaltet sich das von Premierminister Édouard Philippe formulierte makroökonomische Programm als herbe Enttäuschung.
Philippe hat angekündigt, er plane, die öffentlichen Ausgaben über fünf Jahre um magere drei Prozentpunkte zu senken. Er verschob mehrere kluge und wachstumsfördernde Steuersenkungen, manche davon bis zum Ende der aktuellen Amtszeit Macrons im Jahr 2022. Ein paar Tage später riss Macron das Ruder herum und beschleunigte das Tempo bei manchen dieser Steuersenkungen etwas. Dennoch beabsichtigt er, 2018 eine allgemeine Steuererhöhung durchzusetzen, die als teilweiser Ausgleich dieser Steuersenkungen präsentiert wurde.

Zur Verteidigung dieses Ansatzes zitiert Philippe aus offiziellen Berichten des Rechnungshofs, der für 2017 gravierende Budgetüberschreitungen feststellt – eine Folge der unredlichen Wahlversprechen des scheidenden Präsidenten François Hollande. Die neue Führung muss daher zunächst das Defizit unter drei Prozent des BIP bringen, wie im Vorjahr den europäischen Partnern Frankreichs versprochen. Das ist, so insistiert Philippe, eine Frage der Glaubwürdigkeit.

Doch die Zufriedenstellung der Erbsenzähler in Brüssel oder Berlin droht die einsetzende Erholung der französischen Wirtschaft – und damit auch die Unterstützung für den neuen Präsidenten des Landes – zu gefährden und zwar zu einem Zeitpunkt, da wichtige und bisweilen unpopuläre Reformen durchgesetzt werden müssen. (Derzeit liegt das Pro-Kopf-BIP nur wenig über dem Niveau vor der Krise und bei der Arbeitslosigkeit begann man erst im letzten Jahr einen Rückgang zu verzeichnen.) Die europäischen Spitzenpolitiker würden wahrscheinlich eine geringe Budget-Abweichung eher akzeptieren als den Verlust der Unterstützung des proeuropäischen französischen Präsidenten, vorausgesetzt die öffentlichen Ausgaben werden gekürzt.

Zuversicht oder Hybris

Das alles muss Macron verstehen. Warum geht er also ein derartiges makroökonomisches Risiko ein? Und, vielleicht noch wichtiger: Ist das ein Hinweis darauf, wie der Rest seiner Präsidentschaft verlaufen wird? Die wohlwollendste Deutung geht davon aus, dass Macron entschied, sich auf tiefgreifende und mutige Reformen zu konzentrieren und gleichzeitig in makroökonomischen Fragen Vorsicht walten zu lassen, so wie dies auch seine Vorgänger Nicolas Sarkozy und Hollande taten. Beide lehnten Sparpolitik ursprünglich ab, nur um sie später allerdings doch zu verfolgen.
Doch nach Einführung der Sparpolitik mussten Sarkozy und Hollande einen dramatischen Rückgang ihrer Beliebtheitswerte zur Kenntnis nehmen. Glaubt Macron, dass seine Glückssträhne anhalten und eine stärkere wirtschaftliche Erholung mit sich bringen wird als derzeit prognostiziert? Oder ist er ganz einfach nur der Meinung, dass er sich in einer stärkeren Position als seine Amtsvorgänger befindet, um enttäuschende Ergebnisse in den Bereichen Wachstum und Beschäftigung zu überleben? Anders gefragt: Ist Zuversicht oder Hybris Macrons Antriebskraft?
Die beunruhigendste Deutung der Entscheidungsfindung Macrons besagt, dass er bereits ein Gefangener seiner eigenen Regierung ist. Höchste französische Beamte, wie er sie um sich schart, weisen traditionell zwei gemeinsame Merkmale auf: Sie sind übervorsichtig und sie haben wenig Ahnung von makroökonomischer Strategie.

Angesichts dieses Befundes scheint es wahrscheinlich, dass viele in Macrons Regierung die europäischen Abkommen überaus ernst – sogar zu ernst – nehmen und nichts von der Idee drastischer Ausgabenkürzungen halten, weil ihre Macht von der Größe der Geldbörse abhängt, die sie kontrollieren. Wenn diese Deutung stimmt, wird der französische Staat überbordend und die Steuerlast erdrückend bleiben.

Doch es besteht eine dritte Möglichkeit: Um seine Vision der Europäischen Union voranzutreiben, glaubt Macron, er müsse sich auf europäischer Bühne makellos präsentieren und auch die strengsten deutschen Standards erfüllen. Dieser Ansatz wäre vernünftig, wenn Macron wirklich eine neue Vision für die EU hätte. Während seines Wahlkampfs käute er allerdings hauptsächlich die traditionelle Ansicht Frankreichs wieder: Es müsste eine gemeinsame europäische Regierung und einen Finanzminister der Eurozone mit separatem Budget zur Finanzierung öffentlicher Investitionen geben.

Die meisten anderen EU-Länder haben dieser Vision bereits eine Absage erteilt und viele glauben, dass nicht einmal Frankreich selbst einer Übertragung der Souveränität in jenem Ausmaß zustimmen würde, die derartige Reformen erfordern. Jedenfalls befindet sich die EU nicht an dem Punkt, wo sie über derart radikale Schritte diskutieren könnte, da ihre oberste Priorität immer noch die Behebung von Mängeln sein muss: nämlich eine unausgegorene Bankenunion, ein nicht funktionierender Stabilitäts- und Wachstumspakt, exzessive Regulierung und eine inhaltsleere Zuwanderungspolitik.

Macrons rascher Aufstieg war Ausdruck seiner Fähigkeit, unter den richtigen Umständen die richtigen Dinge zu sagen. Aber es bedeutete auch, dass er in den Elysée-Palast einzog, ohne gezeigt zu haben, wer er wirklich ist. Man hofft, er erweist sich als der Mann, der sich in dem gut durchdachten und im Wahlkampf präsentierten Wirtschaftsprogramm widerspiegelt, und nicht als der, der seinen Ausdruck in den seit seinem Amtsantritt präsentierten makroökonomischen Strategien findet.

*Charles Wyplosz

*Charles Wyplosz ist Professor für Internationale Ökonomie am Graduate Institute of International Studies, Leiter des Internationalen Zentrums für Geld- und Bankenstudien sowie Politikdirektor am Zentrum für wirtschaftspolitische Forschung.
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier.
Copyright: Project Syndicate, 2017.
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